Der stille Sammler
Gefühle. Ich bin ihrem Therapeuten zwar nie begegnet, aber ich wette Stein und Bein, sie hat ihn zitiert.«
Scheiße. Jeder, der Sigmund kannte, wusste, was er während seiner Zeit als Profiler durchgemacht hatte, als er im Dreck und in den kranken Gehirnen von Serienmördern herumgekrochen war. Er hatte sämtliche Gefühle empfunden, die ein Mensch empfinden kann, ohne den Verstand zu verlieren, und war am Ende leer und ausgebrannt.
»Wie sieht es bei dir aus? Hast du gut geheiratet?«, fragte er, weil er wusste, dass es die nächste Zeile bei einem Smalltalk war.
»Lieber Gott, ja!« Ich lächelte und spürte, wie mein Gesicht bei dem Gedanken an Carlo wärmer wurde. »Ich bin verrückt nach ihm.«
» › Lieber Gott ‹ ? Früher hättest du › heilige Scheiße ‹ gesagt.« Er sah mir ins Gesicht. »Und du wärst auch nicht errötet.«
»Willst du ein Profil von mir erstellen, oder was? Der Mann war früher Priester, und ich arbeite daran, mich gepflegter auszudrücken.«
Er schüttelte ungläubig den Kopf, als wäre diese Enthüllung bizarrer als alles, was ihm im Laufe seiner Karriere begegnet war. »Stinger Quinn wird zur Nonne.«
»Ich heiße jetzt DiForenza, nicht mehr Quinn«, sagte ich genauso selbstgefällig, wie ich mich fühlte.
Wir näherten uns dem Rand der Böschung, wo die Wagen parkten. Mittlerweile hatte ich Gefallen daran gefunden, mit Sigmund zu plaudern; deshalb fragte ich ihn, ob er Lust hätte, zum Abendessen vorbeizukommen, und versprach, ihn hinterher zu seinem Hotel zurückzubringen.
Noch während ich die Einladung aussprach, bereute ich es. Ich hatte plötzlich das Bild vor Augen, wie Sigmund, Carlo und ich am Tisch saßen. Das Gespräch würde nicht richtig in Gang kommen, und keiner von uns würde sagen, was ihn wirklich beschäftigte.
Wie hatte ich so dumm sein können, Sig einzuladen? Er war Teil meines alten Lebens, und das hatte ich erfolgreich von meinem neuen Leben abgeschottet. Ich hoffte, dass Sig die Einladung ausschlug. Er wusste es ebenfalls. Deshalb – typisch Mann – druckste er nicht lange herum.
»Nein«, sagte er einfach.
»Kommst du morgen zur Leichenschau?«
»Auch nicht. Ich werde Morrison einen Besuch abstatten, weil ich noch nicht mit ihm geredet habe. Ich hätte mich an das Protokoll halten sollen, aber Agent Coleman wollte mich heute Morgen unbedingt dabeihaben.«
»Hatte sie Angst, ich könnte Lynch an den Kragen gehen?«
»Nein, natürlich nicht. Wir alle wussten, dass du dich im Griff haben würdest.« Er senkte die Stimme, als wir uns den anderen näherten. »Aber Coleman könnte sich ein bisschen mehr am Riemen reißen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie und Hughes etwas miteinander hatten. Die beiden versuchen sich nichts anmerken zu lassen, aber ihre Körpersprache lässt sie aussehen wie zwei gleich gepolte Magnete.«
»Der gute alte Sig. Man kann sich immer darauf verlassen, dass du noch den einen oder anderen Profilertrick im Ärmel hast.«
Er entließ meine Hand aus der Ellbogenbeuge und tätschelte sie auf brüderliche Weise, bevor er mir die Tür auf meiner Seite des Wagens aufhielt. »Jedenfalls rede ich morgen mit Mr. Lynch. Und du hast heute Abend einen Anruf zu erledigen.«
6.
Max war auf die Golder Ranch Road abgebogen, um mich zu Hause abzusetzen, während die beiden anderen Wagen auf der Oracle nach Süden und zurück in die Stadt fuhren. Es war schön gewesen, Sigmund wiederzusehen, aber viel nachhaltiger war der Schmerz, den ich beim Anblick von Jessicas Leichnam empfunden hatte. Die Konfrontation mit diesem Teil meiner Vergangenheit machte mir immer noch so sehr zu schaffen, dass ich mit schweren Schritten die Auffahrt zum Haus hinaufging, an die Tür klopfte und »Asyl!« rief. Als Carlo öffnete und mich mit seinem Grinsen begrüßte, fiel mir ein Stein vom Herzen.
Wir gingen ins Wohnzimmer, wo die Möpse über mich herfielen. Ich war doppelt froh, dass Sigmund die Einladung ausgeschlagen hatte und nicht Zeuge der überschwänglichen Wiedervereinigung unseres Rudels wurde.
Nach einem frühen Abendessen (Pasta mit Pesto und Spinatsalat), bevor es Zeit war für den Spaziergang mit den Hunden, ging ich mit meinem Weinglas in das Extraschlafzimmer, das früher Janes Hobbyraum gewesen war. Ich hatte es mit Carlos Einverständnis in mein Büro umfunktioniert, nachdem ich ihm erklärt hatte, dass ich genauso einen Raum für mich selbst brauchte wie Männer ihre Werkstatt. Außerdem hatte ich vor, in dem Zimmer ein
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