Der stille Sammler
wissen fast alles, Zach.«
Er schien noch einigermaßen aufnahmefähig zu sein, also erzählte ich ihm, was sich in den letzten vierundzwanzig Stunden zugetragen hatte und in der Zeit davor, soweit ich es wusste. Ich hielt nichts zurück, das hatte ich seit Jahren nicht mehr getan. Und Zach musste keine Fragen stellen, weil ich sie ahnte und die Antworten vorwegnahm.
Als ich fertig war, hörte ich ein Geräusch, das ich im ersten Moment für klimpernde Eiswürfel in einem Glas hielt. Dann erst wurde mir klar, dass er auf der Tastatur seines Computers tippte, während er mir zuhörte.
»Was tun Sie?«, fragte ich.
»Scheiße, von hier gibt es keine direkte Verbindung nach Tucson«, sagte er, nachdem das Tippen verklungen war. »American Airlines, Flug 734, planmäßige Ankunft vierzehn Uhr.«
»Nein, Zach.«
»Wenn Sie nicht da sind, um mich abzuholen, nehme ich mir ein Taxi zum Büro des Gerichtsmediziners.«
»Zach, hören Sie …«
»Keine Bange, ich mache keinen Ärger. Ich habe dem FBI kein einziges Mal die Schuld gegeben. Nicht mal ganz am Anfang.«
Er hatte mir unzählige Male gesagt, dass er dem FBI nicht die Schuld gab – womit er mich meinte.
»Sind Sie noch dran?«, fragte er.
»Ja.«
»Habe ich dem FBI jemals die Schuld gegeben?«
»Nein, Zach, haben Sie nicht.«
»Nicht mal in der Nacht, als Sie bei mir waren.«
Es war nicht bloß eine Nacht gewesen, sondern achtundvierzig Stunden am Stück, die ich am Telefon damit verbracht hatte, ihn vom Selbstmord abzubringen, als er mich vom anderen Ende der USA angerufen und mir erzählt hatte, seine schwitzenden Handflächen seien weiß von den Schlaftabletten, die er in der Faust hielt und die er schlucken wollte.
»Nein, nicht einmal in jener Nacht, Zach. Aber Sie wollen Jessica nicht sehen, Zach, glauben Sie mir. Nicht so.«
»Oh doch, das will ich.« Dann verließ ihn der Mut, und er brach in Tränen aus. Ich habe nicht viel übrig für weinerliche Säufer, es sei denn, es handelt sich um jemanden in Zachs Situation; also wartete ich geduldig, bis er fertig war.
Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Nase. »Ich schwöre, Zach, bei der Gerichtsverhandlung bekommen Sie Ihren Auftritt vor den Geschworenen. Sie können Ihre Stellungnahme verlesen, die Sie damals niedergeschrieben haben. Erinnern Sie sich? Sie haben sie doch noch?«
Er legte auf.
So ist das mit vielen Angehörigen und Hinterbliebenen. Diesen Teil von ihnen bekommt man nicht zu sehen, nachdem sie für die Medien uninteressant geworden sind. Es ist wie die Schlussszene eines Films, bevor der Abspann kommt: Der Übeltäter ist geschnappt, der Gerechtigkeit wurde Genüge getan. Die Schauspieler, die die Detectives gespielt haben, gehen aus dem Bild – manche nachdenklich, andere überschwänglich, auf jeden Fall siegreich. Die Zuschauer werfen ihre Popcornreste weg, wischen sich die fettigen Finger ab und gehen nach Hause. Der eine oder andere zittert vielleicht ein bisschen, weil seine Fantasie ihm vorgaukelt, dass der Killer aus dem Film irgendwo im Haus lauert, wenn er im Dunkeln den Wagen in die Garage fährt, aber da ist natürlich keiner, und das Leben geht weiter wie zuvor, hopsasa, tralala.
Im richtigen Leben sieht es ein bisschen anders aus. Die Familien mancher Opfer verbringen den Rest ihres Lebens damit, auf das eigene Sterben zu warten. Auf das Ende.
Nur Idioten glauben an Gerechtigkeit.
7.
Um zwei Uhr am nächsten Nachmittag holte ich Zach am Tucson International ab (ein Terminal, zwei Hallen, zwanzig Flugsteige). Ich sah ihn die Rolltreppe in die Gepäckhalle herunterfahren, wobei er unter der Hallendecke langsam von unten nach oben in Sicht kam, von den schäbigen Wanderschuhen bis zum kahl werdenden Schädel. Er hatte ungefähr meine Größe, war aber viel dünner. Und obwohl er sechs Jahre jünger war als ich, kann ich ohne Eitelkeit behaupten, dass er älter aussah.
Von der Rolltreppe aus stolperte er fast in meine Umarmung. »Yee-ha. Das letzte Stück in der Maschine war wie ein Ritt auf einem Bronco«, murmelte er mir ins Haar, als wollte er der Realität nicht direkt ins Gesicht blicken müssen.
»Die Anflugschneise führt zwischen zwei Bergketten hindurch«, erklärte ich ihm. »Der Wind wird wie in einem Trichter zusammengedrückt, das rüttelt die Flugzeuge durch.« Ich nutzte die Gelegenheit, die mir seine Umarmung bot, und schnupperte. Bei unserer letzten Begegnung hatte Körperhygiene weit unten auf Zachs Prioritätenliste gestanden.
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