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Der stille Sammler

Der stille Sammler

Titel: Der stille Sammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Becky Masterman
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sehnsüchtigen Blick auf den Krabbencocktail, unsere Vorspeise, einen winzigen Schluck Wein. Es war ein sehr hübsches Restaurant, in das er mich geführt hatte.
    »Seit wann die Menschen gut sind, meinen Sie?«
    Ich nickte, tunkte ein kleines Stück Krabbe in die Cocktailsauce und knabberte daran.
    »Schon immer. Dieser ganze Sünden-Mist ist Unsinn. Das war mein großes Problem mit der Kirche«, antwortete er gelassen, ohne die typische Erregtheit, die viele Leute an den Tag legen, wenn sie über Glaubensfragen diskutieren. Dann nippte er an seinem Manhattan. Offenbar hatte er nicht die Absicht, mehr darüber zu sagen. Ein bisschen warmduschermäßig, so ein Manhattan, dachte ich. Na ja, niemand ist vollkommen.
    Schließlich fragte er: »Welche Erfahrung haben Sie denn gemacht?«
    Auch er verstand sich gut darauf, den Fokus von sich weg auf andere zu lenken.
    »Wer weiß schon, welche Abgründe in den Herzen der Menschen lauern?«, zitierte ich den immer gleichen ersten Satz einer Krimi-Hörspielserie aus den Dreißigerjahren.
    »Der Schatten weiß es!«, zitierte er den immer gleichen zweiten Satz.
    Wir lachten beide – es war einer dieser Augenblicke, in dem man dem anderen gegenüber zum ersten Mal Andeutungen macht, wie die eigenen geheimen Wünsche aussehen. Dann aber sah ich, dass er wirklich eine Antwort von mir erwartete und dass ich ihm irgendetwas erzählen musste. »Meiner Erfahrung nach …« Mir lag etwas Schnoddriges auf der Zunge, doch ich wollte ihn beeindrucken und ihm zeigen, dass ich auf intellektueller Ebene mit ihm mithalten konnte. »Meiner Erfahrung nach dient das sogenannte Gute meistens nur dazu, eine Agenda zu verbergen.«
    »Interessant«, sagte er. »Sie haben Max Beerbohm gelesen.«
    Ich gestand, Max Beerbohm nicht zu kennen.
    »Ein Schriftsteller«, ließ Carlo mich wissen und brachte das Kunststück fertig, dabei nicht gönnerhaft zu wirken. »Er hat eine Geschichte geschrieben, die sich mit Ihrer Sichtweise der Dinge deckt. Allerdings kommt er zu einem anderen Schluss. Wollen Sie ihn hören, oder ziehen Sie es vor, dass wir uns weiter auf Witzeleien und Flirten beschränken?«
    Ich war für einen Moment sprachlos – eine seltene Erfahrung für mich bei einem Mann. Carlo DiForenza hatte offenbar nicht vor, mir die Kontrolle über den Abend zu überlassen. Ich fühlte mich ein bisschen unbehaglich deswegen, doch dieses Unbehagen war in gewisser Weise ein wunderbares Gefühl: Zum ersten Mal befand ich mich in einem emotionalen freien Fall, ohne nach dem Netz zu suchen. Ich benutzte das Wort, das zu meinem Lieblings-Kosewort werden sollte, der Name einer Figur aus Pogo , einem alten Zeichentrickfilm: »Ganz wie Sie wollen, Professa.«
    Er lächelte, um mir zu zeigen, dass er die Anspielung verstanden hatte. »Danke sehr.« Dann hielt er kurz inne, um seine Maraschinokirsche zu verspeisen, ehe er fortfuhr: »Ein böser alter Mann verliebt sich in eine unschuldige junge Frau. Er erklärt ihr seine Liebe, doch sie kann sehen, wie verderbt er ist. Seine Verdorbenheit ist ihm ins Gesicht geschrieben. Sie sagt ihm, der einzige Mann, den sie jemals wird lieben können, hat das Gesicht eines Heiligen. Also geht der alte Mann in ein Maskengeschäft und besorgt sich eine Heiligenmaske. Die junge Frau verliebt sich in ihn und erklärt sich bereit, ihn zu heiraten. Aber von nun an wird es schwierig für den alten Mann: Um sich die Liebe des Mädchens zu bewahren, muss er die Täuschung aufrechterhalten. Also gibt er den Armen Almosen, ist freundlich zu Kindern und nett zu kleinen Tieren und besucht die Kranken. Alles, um die junge Frau zu überzeugen, dass er der Heilige ist, den sie in ihm vermutet. Und jeden Morgen, bevor die Sonne aufgeht, setzt er die Maske wieder auf, damit sie nicht sieht, was er wirklich ist. Wie Sie so schön sagen, er verbirgt seine Agenda.
    Eines Morgens jedoch, die beiden sind schon ein paar Jahre verheiratet, greift er unter das Bett, wo er die Maske immer versteckt, ertastet aber nur Papierschnipsel. Mäuse haben sich in der Nacht über die Maske hergemacht und kaum noch etwas von ihr übrig gelassen. Der alte Mann bricht in Tränen aus, denn er weiß, dass es das Ende seiner großen Liebe bedeutet. Sobald seine Frau feststellt, dass er ein Heuchler ist, wird sie ihn verlassen.
    Dann geht die Sonne auf, und wie jeden Morgen dreht seine Frau sich zu ihm herum, damit sein Gesicht das Erste ist, was sie an dem neuen Tag sieht. Sie schaut ihn voller Liebe an, ohne eine

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