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Der stille Sammler

Der stille Sammler

Titel: Der stille Sammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Becky Masterman
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jedes meiner neunundfünfzig Jahre flammt und wütet.
    Wie soll ich meine Gefühle in diesem Moment erklären, meinen Hass auf diesen Mann, der so viele Leben vernichtet hatte und nach all den Jahren noch einmal zurückgekehrt war, um auch mein Leben zu zerstören? Meinen Hass auf diesen Mann, der verantwortlich war für das Ende des einzigen wahren Glücks, das ich je gekannt hatte? Ich war rasend vor Wut. Außer mir. Genug, um ihn zu töten.
    Ihn zu töten und sein noch warmes, blutiges Fleisch zu verschlingen.
    Immer langsam, meine Kleine. Du schlägst über die Stränge. Das hatte mein Vater immer gesagt und hinzugefügt: In zwanzig, dreißig Jahren wirst du über das alles nur noch lachen.
    Aber Daddy, überleg doch mal. In zwanzig, dreißig Jahren sind wir beide längst tot. Ha-ha. Ist das nicht zum Schießen?
    Ich tigerte auf und ab in Zachs Zimmer, sehnte mich nach Kontakt zu einer anderen Seele und scheute zugleich davor zurück. Mein Bruder, ein Cop in Fort Lauderdale, dessen Frau an multipler Sklerose erkrankt war? Nein. Meine Schwester, eine CIA -Agentin, die Gott weiß wo steckte? Nein. Mom? Nein. Nicht Mom. Trotzdem wählte ich ihre Nummer im Seniorenheim Weeping Willow, während der losgelöste Teil meines Bewusstseins ein weiteres Mal meinen Körper verließ und mich beim Tippen der Nummer beobachtete.
    »Ich bin’s, Mom, Brigid.«
    »Ist alles in Ordnung?« Ihre Stimme klang augenblicklich wie die eines Menschen, der überzeugt ist, dass die einzigen Nachrichten, die es gibt, schlechte Nachrichten sind und dass ich von einem Krankenhaus aus anrief und der einzige Körperteil, den ich noch bewegen konnte, mein Mund war. Sie fragt immer »Ist alles in Ordnung?«, anstatt »Hallo« zu sagen wie andere Mütter.
    »Sicher, Mom, alles in Ordnung.«
    »Gut. Weißt du, manchmal reicht schon der Klang deiner Stimme, um eine akute Kolitis bei mir auszulösen. Ich mache mir ständig Sorgen um dich.«
    Bevor ich die Gelegenheit bekam, unser Gespräch zu einem Dialog zu machen, fuhr sie auch schon fort: »Ich habe gestern Abend beim Bingo dreißig Dollar gewonnen.«
    »Das ist ja toll, Mom. Glückwunsch.«
    »Wie geht es Carlo?«
    Meine Kehle schnürte sich zusammen, und ich brachte kein Wort hervor. Warum zum Teufel musste ich sie anrufen, bevor ich stark genug war, um mir anzuhören, dass ich über fünfzig war und immer noch nicht erwachsen genug, um eine Ehe durch die Untiefen des Alltags zu steuern, ohne sie zu zerstören? Oder mir sagen zu lassen, dass schon ein einfacher Anruf von mir genügt, um eine Kolitis bei ihr auszulösen? Aber es war okay – zum Glück musste ich mir keine tiefer gehenden Details anhören.
    Mom wandte sich vom Telefon weg, und ich konnte hören, wie sie mit Dad redete, konnte beinahe die Eiswürfel in seinem Glas klimpern hören, den Bourbon riechen. Als sie den Mund wieder an die Sprechmuschel brachte, sagte sie: »Hör zu, Honey, es ist Essenszeit. Daddy möchte mich heute Abend in ein Restaurant ausführen. Kannst du später noch mal anrufen?«
    »Sicher, Mom. Kein Problem, Mom.« Ich legte auf, während ich versuchte, die Jahrzehnte des Erwachsenseins wiederzufinden, die ich während der wenigen Sekunden unseres Telefonats irgendwie vergessen zu haben schien.
    Damit hatte ich die Familie durch. Ich wagte nicht, Sigmund anzurufen, aus Angst, ich könnte ihm Dinge erzählen, die er dann später vor Gericht gegen mich aussagen musste.
    Zum ersten Mal schaute ich mich eingehender in Zachs Zimmer um. Ich saß auf einer Hälfte eines Doppelbetts und versuchte, den Gedanken an die Körperflüssigkeiten zu verdrängen, die sich unter einer Infrarotlampe auf der Bettdecke zeigen würden. Über dem Bett hing ein großer Druck, ein Aquarell, das einen Kaktus voller dunkelroter Früchte zeigte. Ich stellte mir vor, dass diese Früchte aufplatzten wie die Beutel von Blutkonserven und die rote Flüssigkeit an der Wand herunterrann. Ein zweites Aquarell zeigte einen Riesenkaktus mit Armen und kleinen weißen Blüten an der Spitze. Ich werde nicht verraten, woran er mich erinnerte.
    Obwohl Zachs altes Zimmer der sicherste Ort für mich war, hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste unter Menschen. Am besten in eine Bar.

35.
    Unsere ganze Familie war bekannt für ihre Sauferei. Wann immer Mom und Dad eine Party gegeben hatten, streiften mein Bruder, meine Schwester und ich, alle drei kleine Rotzlöffel, am nächsten Morgen durch das Haus und leerten die warm gewordenen Highballs, die von den

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