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Der stille Sammler

Der stille Sammler

Titel: Der stille Sammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Becky Masterman
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Spur des Entsetzens, mit dem er gerechnet hat. Er küsst sie vorsichtig, steht auf und wirft einen verstohlenen Blick in den Spiegel über der Kommode. Und dann erlebt er den Schock seines Lebens, denn sein Gesicht sieht genauso aus wie die Maske, die er so viele Jahre getragen hat … Ah, die Vorspeise«, unterbrach er sich, leckte sich erwartungsvoll die Lippen und machte sich über seine Muscheln und die karamellisierten Zwiebeln her. Deshalb war ihm nicht aufgefallen, dass ich ein paar Sekunden gebraucht hatte, um meinen Atem unter Kontrolle zu bringen und die Tränen niederzukämpfen, bevor ich irgendetwas Belangloses über meinem Seebarsch sagte.
    Ich war ihm dankbar für die Warnung. In diesem Moment beschloss ich, dass Dr. Carlo DiForenza mich niemals ohne meine Maske sehen würde. Die Taktik war erfolgreich gewesen – bis zum heutigen Tag.

37.
    Ich hatte mir einen dritten Wodka bestellt, vielleicht auch einen vierten. Emery schenkte mir das Glas nicht gleich voll, sondern musterte mich. In seinen Augen spiegelte sich eine Frage, die er seinen Gästen häufig stellte. Um ihm zu zeigen, dass ich nicht betrunken war und meine Lippen und meine Zunge noch unter Kontrolle hatte, fragte ich: »Was geschah eigentlich zuerst: dass Cheri in einer Cop-Bar arbeitete oder dass sie Strafrechtspflege studierte? Oder ist das nur ein Zufall?«
    »Es gibt keine Zufälle«, antwortete Emery. »Cheri hat ihre ältere Schwester verloren. Sie wurde Opfer eines Gewaltverbrechens. Sie müssten doch wissen, wie sehr Gewaltopfer von diesem Studienfach angezogen werden.«
    »Ist es lange her?«
    Emerys Augen wurden groß und traurig. »Was verstehen Sie unter lange?«
    »Ich würde gerne irgendwann mit ihr darüber reden.«
    »Wenn Sie weiterhin in meine Bar kommen, werden Sie eines Tages bestimmt die Möglichkeit haben. Aber jetzt noch nicht. Möchten Sie wirklich noch einen Drink?«
    Ich schüttelte den Kopf und fragte stattdessen nach meinem Burrito zum Mitnehmen. Cheri brachte ihn in einem Styroporbehälter und packte ihn zusammen mit Plastikbesteck und einer Serviette in eine braune Papiertüte.
    Die Quinn-Familie war daran gewöhnt, dass ihr Helfer zur Seite standen. Emery sagte mir, Cheri würde mich nach Hause fahren, wenn ich ihr zeigen könne, wo ich wohnte. Ich wollte nicht, dass jemand erfuhr, ich könne nicht mehr nach Hause fahren und müsse im Sheraton übernachten. Deshalb bat ich Emery, mir stattdessen ein Taxi zu rufen. Zehn Minuten vergingen, zwanzig Minuten, also bestellte ich mir einen weiteren Wodka, während ich wartete. Bald war außer mir niemand mehr im Lokal. Ich quasselte mit Emery und Cheri – jene Art von dümmlichem Kneipengeschwätz, das einem wie geistreiche Konversation erscheint, wenn man halbwegs die Lampe am Brennen hat.
    Witze sind gut in so einer Zeit, ganz besonders, wenn man sie schon mehrere Male erzählt hat, weil die Worte geübt sind und man sie weniger holprig hervorbringt. Ich erzählte den Witz von dem Typen, der Angst vorm Fliegen hatte, weil eine Bombe im Flugzeug versteckt sein könnte. »Sein Therapeut meint: › Die Chance, in einem Flugzeug mit einer Bombe an Bord zu fliegen, steht eine Million zu eins. ‹ Der Typ meint: › Nicht gut genug. ‹ Der Therapeut wieder: › Okay, die Chance, in einem Flugzeug mit zwei Bomben an Bord zu fliegen, steht eine Milliarde zu eins. Also nehmen Sie selbst eine mit. ‹ «
    Vor dreißig Jahren war der Witz vielleicht lustig, doch Cheri und Emery sahen mich an, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich weiß nicht …«, sagte Emery schließlich, »aber Bombenwitze sind heute nicht mehr so angesagt.« Er redete im Tonfall eines Barmannes, der bei zahllosen Gelegenheiten Übung darin erlangt hatte, den Angriffen betrunkener Gäste auszuweichen. Cheri saß neben mir auf dem Barhocker und rieb mir behutsam den Rücken, was mir nicht besonders passte.
    »Alles ist lustig«, widersprach ich. »Es muss so sein, sonst hält man es nicht aus.«
    Ich weiß nicht, ob ich etwas Geistreiches gesagt hatte oder ob er einfach nur überrascht war, Worte wie diese aus dem Mund einer Frau wie mir zu hören, jedenfalls lachte er lauthals, und sein ganzer Bauch wackelte. »Da haben Sie recht, keine Frage!«
    Endlich traf das Taxi ein, bevor ich mich noch mehr zum Trottel machen konnte. Emery und Cheri halfen mir beim Einsteigen, und der Fahrer brachte mich zu meinem Hotel. Ich wurde immer nüchterner auf dem Weg dorthin. Dabei hoffte ich inbrünstig, dass der Fahrer

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