Der stille Sammler
Gästen stehen gelassen worden waren. Ich hatte das harte Zeug um Carlos willen weggelassen, doch ohne Carlo war die Abstinenz die reinste Verschwendung von gutem Alkohol.
Ich landete in Emery’s Cantina am Tresen, bei Wodka auf Eis in einem Tumbler, sodass ich keine Angst haben musste, mein Glas umzustoßen. Der erste Schluck brachte das ersehnte Kitzeln an meiner Schädelbasis, bevor sich die Wärme mein Rückgrat hinunter ausbreitete. Beim zweiten Drink war ich angesäuselt genug, um mich daran zu erinnern, dass der Besitzer Ungar war, und ich sagte egeschegedre zu ihm, als ich mein Glas hob.
Er lachte belustigt auf und versuchte mir mit seinem osteuropäischen Akzent die richtige Aussprache beizubringen.
Während ich auf diese Weise zu einer Unterrichtsstunde in Ungarisch kam, beäugte ich ihn genauer. Emery war gar kein übergewichtiges dickes Baby, wie ich bisher geglaubt hatte, sondern einer dieser sehr kräftigen, schweren Männer, die sich trotz ihrer Masse auf eine Weise bewegen, dass selbst der Bauch einen eigenartigen Sex-Appeal besitzt.
Der Kontakt mit einem menschlichen Wesen tat mir gut, und deshalb fragte ich ihn: »Wann sind Sie rübergekommen?«
»Vor ungefähr zwanzig Jahren«, antwortete er und ging eine Zeit lang in sich, wie in der Betrachtung alter Erinnerungen versunken. Dann erzählte er, er sei mit seiner Familie kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in die Staaten emigriert. Ich erfuhr, dass es aus irgendwelchen Gründen eine außergewöhnlich große ungarische Gemeinde in Tucson gab, sodass er problemlos einen Bürgen fand. Dann fragte er mich nach meinem Beruf.
»Urheberrechtsverletzungen«, antwortete ich gewohnheitsmäßig.
Er musterte mich skeptisch. »Aber Cheri hat mir gesagt, dass Sie berühmt sind.«
Ich verlor die Lust an weiterer Konversation. Vorsichtig, um nicht versehentlich in den Spiegel zu blicken, der sich auf der gesamten Länge hinter der Theke erstreckte, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Flaschen mit Tarantula Tequila (kein Witz!) und etwas, das sich Cabo Wabo nennt. Ein fleckiges Schild verkündete: Kein Kredit .
Dann bemerkte ich das Glas mit den eingelegten Schweinefüßen am Ende des Tresens. Es erinnerte mich an den Anblick, den man beim Gerichtsmediziner nach einem Massensterben zu sehen bekommt. Das rosige Fleisch und der weiße Knorpel der Schweinefüße drückten sich gegen das Glas, als versuchten sie nach draußen zu kommen und über den Tresen zu mir zu schleimen. Meine lebhafte Fantasie kam in Fahrt und ließ mich noch Schlimmeres sehen, abscheuliche, groteske Dinge, genau wie das Kaktus-Bild im Hotelzimmer oder die glitzernden Wasser in den Bergen. Ich konnte den Blick nicht mehr von dem Glas abwenden und spürte, wie mein Magen sich hob.
Hätte es sich nicht völlig verrückt angehört, hätte ich Emery gebeten, ein Tuch über das Glas zu werfen. Ich war es satt, diese Dinge sehen zu müssen, und meine Gedanken widerten mich an. Carlos normaler Verstand hatte meinem kranken Bewusstsein Erleichterung verschafft – ein scharfer Kontrast, der mir bis zum jetzigen Zeitpunkt nie bewusst gewesen war.
Du bist total kaputt, Brigid, sagte ich mir. Wenn das alles vorbei ist, gehst du wieder in Therapie.
Und dann der Gedanke: Aber wozu überhaupt?
Endlich gelang es mir, den Blick von dem Glas loszureißen auf der Suche nach etwas Lebendigem, das es wert war, angeschaut zu werden. Eine Vase mit einer einzelnen roten Rose neben der Registrierkasse brachte mich zu der Frage, was Emery und Cheri wohl feierten.
Emery schien meine Stimmung gespürt zu haben, denn er tat, was alle erfahrenen Barkeeper in so einer Situation tun: Er gab vor, mich zu ignorieren, während er in meiner Nähe Gläser polierte, sodass er mich hören und schnell zur Stelle sein konnte, falls ich nicht nur mit mir selbst redete. Er war die Sorte Barmann, die jeder Detective braucht. Vor allem war er jemand, mit dem ich reden konnte, jetzt, nachdem ich wieder allein war.
Er verschwand für einen Moment in einem Hinterzimmer, vermutlich sein Büro. Als er wieder auftauchte, roch er nach aromatischem Pfeifentabak, Kirsche und Bourbon.
Es waren nicht viele Gäste da – normal für einen Dienstagabend. Deshalb ging es wohl in Ordnung, dass ich Cheri bat, die Musikbox mit ihrer Mischung aus 90er-Jahre-Pop und Country Guitar abzustellen. Sie kam meiner Bitte nach.
Wann hatte ich eigentlich diese krankhafte Abneigung gegen jede Art von Musik entwickelt?
Wahrscheinlich, seit
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