Der stille Schrei der Toten
reden.«
Sie meinte die große schwarze Glocke, die ich an einem Pfahl auf der Terrasse vor meinem Haus befestigt hatte. Harve hatte eine ähnliche. Wir benutzten sie, wenn mal Not am Mann war, aber noch öfter, wenn einem von uns beiden nach Gesellschaft zumute war. Im Moment jedoch wollte ich einfach nur, dass Dottie endlich verschwinden würde. Ich wollte mich in meinem Kissen hemmungslos ausweinen, wollte mich von der maßlosen Panik befreien, die mich befallen hatte, als ich an diesen Stuhl gefesselt war. Am liebsten jedoch hätte ich Black einen Schuss zwischen die Augen verpasst. »Ich kann noch nicht darüber reden. Ich schau morgen mal bei euch vorbei. Sag Harve, dass er sich keine Sorgen machen soll. Es ist alles okay mit mir. Ich bin nur wahnsinnig wütend, das ist alles.«
»Okay.« Dottie hatte mich verstanden. Aber sie war durch und durch lieb und fürsorglich, und es fühlte sich gut an, als sie die Hände auf meine Schultern legte. »Beug dich doch mal vor, und ich entspann dich noch ein wenig, ehe ich geh.«
Dottie war gelernte Masseurin, und ich überließ mich ihren Zauberhänden. Kaum hatte sie begonnen, meine Schultern zu kneten, ließ ich los und die ganze schreckliche Geschichte strömte, fast gegen meinen Willen, aus mir heraus. Sie hörte einfach nur zu, sagte selbst gar nichts und gab nur hin und wieder ein paar aufmunternde Töne von sich. Sie konnte einfach wahnsinnig gut zuhören. Ich vermute mal, aus dem Grund bin ich ihr gegenüber auch so offen, was ich normalerweise nicht bin, nicht einmal gegenüber Harve. Er machte sich sowieso viel zuviel Sorgen um mich.
Schließlich sagte Dottie: »Würdest du Nicholas Black so was wirklich zutrauen?«
»Ich habe seine Stimme gehört, und er hat mit den Kerlen gesprochen, die mich angegriffen haben. Er war von Anfang an dabei. Möglich, dass er selbst nichts gemacht hat. Vielleicht hat er sie angeheuert, um mir einen Denkzettel zu verpassen. Er heuert Leute für alles Mögliche an.« Ich stand auf, meine Wut war neu entfacht, ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so wütend gewesen war. Ich begann auf- und abzutigern, blieb aber unvermittelt stehen, als Harves Glocke ertönte.
»Harve macht sich Sorgen um dich«, sagte Dottie, während sie zur Haustür ging. »Ich muss zurück, um ihm alles zu erzählen. Du wirst sehen, das wird wieder mit dir. Iss was von der Suppe, leg dich hin und vertrau auf die Wirkung des Grogs. Dann geht es dir gleich wieder besser.« Sie klang zuversichtlicher, als ich es war.
»Mach ich.«
»Mach ein paar Yogaübungen. Das beruhigt und klärt die Gedanken. Ruf an, wenn du uns brauchst, oder läute die Glocke.«
»Danke, Dot.«
Sie zögerte und sah mich kritisch an. »Soll ich nicht doch lieber über Nacht bleiben? Harve wird das sicher verstehen.«
»Nein, danke. Es geht schon, wirklich.«
Ich ging auf die Veranda hinaus und sah ihr nach, wie sie im Laufschritt zu Harves Haus hinüberlief. Dottie rannte immer und überall, egal ob barfuß oder nicht. Aufgrund ihres Trainings war sie der fitteste Mensch, den ich kannte. Ich nahm mir fest vor, wieder neu einzusteigen, und zwar mit freien Gewichten, sobald ich mich beruhigt hatte. Mein Kickbox-Training würde ich auch verschärfen müssen. Ich hatte die Nase voll davon, überfallen und zusammengeschlagen zu werden. Was war eigentlich los mit mir? Wo war mein sechster Sinn? War ich überhaupt noch bei Sinnen?
Ich ging in die Küche und drehte den Herd ab. Essen würde jetzt auch nichts bringen. Ich musste ständig darüber nachdenken, warum Black so etwas inszenierte. Um mich einzuschüchtern, damit ich ihn in Ruhe ließ? Nun, ich wäre schön dumm, wenn ich ihn in Ruhe lassen würde. Jetzt ließ ich nicht mehr locker, ich würde ihn kriegen, und wenn ich mein ganzes restliches Leben darauf verwenden müsste.
Yoga hatte ich in meiner Zeit in Kalifornien gelernt, und es hatte mir in schwierigen Situationen geholfen. Ich war zu sehr außer mir, um irgendetwas anderes zu tun, hin- und hergelaufen war ich lange genug. Überfallen zu werden und beinahe zu ertrinken, sind Situationen, denen ich nun mal nicht gewachsen bin. Ich brauchte Ruhe in meinem Kopf, in dem ich alles immer wieder neu und von vorn durchlebte.
Meine Yogaübungen pflegte ich auf dem Steg zu machen, der sich auf den See hinaus erstreckte. Am vorderen Ende schaukelte Old Betsy, mein Boot, auf dem Wasser, festgebunden an einen Pfahl mit einer Lampe, die die ganze Nacht über brannte. Kaum
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