Der stolze Orinoco
waren und nichts anderes sein konnten, so mußte man wohl dem Orinoco die Rangstellung zusprechen, von der ihn minderwürdige Wasserläufe zu stürzen suchten.
Man braucht sich nicht darüber zu wundern, daß dieser im Laufe einer hitzigen Discussion aufgetauchte Entschluß sofort zur Ausführung kam, auch nicht über das Aufsehen, das er in der gelehrten Welt und unter den höheren Gesellschaftsclassen von Ciudad-Bolivar ebenso erregte, wie er fast die ganze Republik Venezuela in gelinden Aufruhr brachte.
Es geht mit gewissen Städten, wie mit gewissen Menschen: so lange sie keine feste und dauernde Wohnstätte haben, tasten sie zögernd umher. Das trifft auch für den Hauptort der Provinz Guyana zu, seit dem ersten Entstehen eines solchen im Jahre 1576 am rechten Ufer des Orinoco. Nachdem nämlich der Ort an der Mündung des Caroni unter dem Namen San-Tomé gegründet worden war, wurde er zehn Jahre später um etwa fünfzehn Lieues weiter flußabwärts verlegt. Von den Engländern unter dem Befehle des berühmten Walter Raleigh niedergebrannt, verlegte man ihn 1764 wieder hundertfünfzig Kilometer weiter stromaufwärts, nach einer Stelle, wo die Breite des Flusses kaum noch vierhundert Toisen beträgt. Daher stammte der Name des »Engen« Angostura, der später dem Namen Ciudad-Bolivar weichen mußte.
Dieser Hauptort der Provinz liegt gegen hundert Lieues (450 Kilometer) vom Delta des Orinoco entfernt, dessen Wasserstand – den man an der Piedra del Midio, einem mitten im Strome aufragenden steilen Felsen abliest – unter dem Einfluß der (vom Januar bis zum Mai) trockenen Jahres-und dem der Regenzeit sehr beträchtlich wechselt.
Zu der Stadt, die nach der neuesten Zählung elf-bis zwölftausend Einwohner haben soll, gehört noch die Vorstadt Soledad am linken Stromufer. Sie erstreckt sich von der Alameda-Promenade bis zum Quartier »Chien-sec« (Trockner Hund), ein ganz unpassender Name, da dieser Stadttheil mehr als jeder andre den Ueberschwemmungen ausgesetzt ist, die das plötzliche und häufig sehr starke Anschwellen des Orinoco hervorruft. Die Hauptstraße mit ihren öffentlichen Gebäuden, eleganten Läden und offnen Säulengängen, die Häuserreihen, die sich übereinander am Abhange des schiefrigen Hügels erheben, der die Stadt beherrscht, die ländlichen Wohnstätten, die zerstreut unter grüner Umrahmung hervorschimmern, die eigenartigen Seen, die der Strom flußauf-und flußabwärts durch Verbreiterung seines Bettes bildet, die Bewegung und das Leben des Hafens, die zahlreichen Dampfer und Segelschiffe, die für die Lebhaftigkeit des Stromverkehrs zeugen, der noch durch einen recht bedeutenden Handel vermehrt wird – Alles vereinigt sich hier, das Auge zu ergötzen.
Ueber Soledad, wo später eine Eisenbahn münden soll, wird Ciudad-Bolivar bald mit Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, verbunden sein. Seine Ausfuhr an Rinderhäuten und Hirschfellen, an Kaffee, Baumwolle, Indigo, Cacao und Tabak dürfte dann eine weitere Vermehrung erfahren, eine so große Höhe sie durch die Ausbeutung der goldhaltigen Quarzlager, die 1848 im Thale des Yuruauri entdeckt wurden, auch schon erreicht hat.
Die Neuigkeit, daß die drei gelehrten Mitglieder der geographischen Gesellschaft von Venezuela aufbrechen wollten, um die Streitfrage bezüglich des Orinoco und seiner zwei südwestlichen Zuflüsse aus der Welt zu schaffen, fand also im ganzen Lande den lebhaftesten Widerhall. Die Bolivarier sind etwas heißblütig und machen aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Die Tagespresse nahm die Angelegenheit auf und stellte sich zum Theil auf die Seite der Atabapo-Anhänger, zum Theil auf die der Vertheidiger des Guaviare oder des Orinoco. Die große Menge kam ins Feuer. Man hätte wirklich glauben mögen, die Wasserläufe drohten ihr Bett zu ändern, das Gebiet der Republik zu verlassen und nach irgendeinem andern Staate der Neuen Welt auszuwandern, wenn man ihnen nicht Gerechtigkeit widerfahren ließe.
Bot nun wohl diese Fahrt stromaufwärts ernstliche Gefahren? In gewissem Maße, ja; wenigstens für Reisende, die auf ihre eignen Hilfsmittel angewiesen waren. Gegenüber der beabsichtigten Lösung jener Lebensfrage scheute vielleicht aber auch die Regierung vor einem Opfer nicht zurück. Das war ja eine passende Gelegenheit zur Verwendung der Miliz, die auf dem Papiere wohl zweihundertfünfzigtausend Mann zählt, in der That aber kaum den zehnten Theil dieser Sollstärke erreicht. Warum hätte man den
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