Der stolze Orinoco
Vorgange der Begründer der spanisch-amerikanischen Unabhängigkeit zu tragen pflegte, überall einen gewissen Eindruck machte.
Heute wieder mahnte Herr Miguel mit klangvoller, ruhiger, aber eindringlicher Stimme:
»Ereifern Sie sich nur nicht zu sehr, liebe Freunde! Ob er nun von Osten oder Westen herströmt, der Orinoco bleibt allemal ein venezuolanischer Fluß, der Vater der Gewässer unsrer Republik…
– Es handelt sich aber nicht darum, unterbrach ihn der hitzige Varinas, zu wissen, wessen Vater, sondern nur darum, wessen Sohn er ist, ob er auf dem Bergrücken der Parima oder der columbischen Anden geboren wurde…
– Der Anden… der Anden!« rief Herr Felipe, spöttisch die Achseln zuckend.
Offenbar war hier keiner gewillt, in der Frage des Orinoco-Ursprungs dem andern nachzugeben; beide blieben starrköpfig dabei, jeder dem Strome einen andern Vater zuzuweisen.
»Nun, liebe Collegen, nahm Herr Miguel nochmals das Wort in der guten Absicht, sie zu gegenseitigen Concessionen zu bestimmen, es genügte ja, die Augen auf diese Karte zu richten, um zu sehen, daß der Orinoco – er mag kommen, woher er will, vor allem aber, wenn er aus Osten kommt – einen herrlichen Bogen, einen regelmäßigen Halbkreis bildet, gegenüber dem unglückseligen Zickzack, in das ihn der Atabapo oder der Guaviare drängten…
– Was kommt es denn darauf an, ob sein Bett eine schön geschwungene Linie zeigt oder nicht? rief Herr Felipe.
– Wenn sie nur scharf gezeichnet ist und der Natur des Terrains entspricht!« setzte Herr Varinas dazu.
Thatsächlich war es wohl gleichgiltig, ob die Biegungen des Flußlaufes künstlerischen Anforderungen entsprachen oder nicht. Hier lag ja eine rein geographische und keine artistische Frage vor. Die Beweisführung des Herrn Miguel ging von falschen Grundsätzen aus. Er fühlte das recht wohl. Da kam ihm der Gedanke, das Gespräch auf ein andres Thema zu lenken, um ihm seine drohende Schärfe zu nehmen. Das konnte zwar auch nicht dazu dienen, zwischen den beiden Gegnern Uebereinstimmung herbeizuführen, vielleicht aber vereinten sie sich, wie zwei, von ihrer richtigen Spur abgekommene Hunde, zur Verfolgung eines dritten Ebers.
»Zugegeben, sagte also Herr Miguel, stehen wir davon ab, die Sache von dieser Seite aus anzusehen. Sie, Felipe, behaupten – und mit welcher Hartnäckigkeit! – daß der Atabapo, fern davon, nur einen Nebenfluß darzustellen, der Strom selbst sei…
– Das behaupte ich!
– Sie aber, Varinas, bleiben – und mit welcher Halsstarrigkeit! – dabei, daß dem Guaviare die Ehre zukommt, der eigentliche Orinoco zu sein
– Dabei bleib’ ich!
– Ja, fuhr Herr Miguel fort, dessen Finger auf der Landkarte dem Laufe des umstrittenen Stromes folgte, warum könnten Sie sich denn nicht Beide täuschen?
– Alle Beide?… stieß Herr Felipe hervor.
– Nur Einer von uns irrt, erklärte Herr Varinas; ich… ich bin das aber nicht!
– Lassen Sie mich nur ausreden, sagte Herr Miguel ruhig, und antworten Sie erst, wenn Sie mich angehört haben. Es giebt doch außer dem Guaviare und dem Atabapo noch andre Nebenflüsse, die ihre Fluthen in den Orinoco ergießen, Zuflüsse, die sich ebenso durch ihren langen Lauf wie durch großen Wasserreichthum auszeichnen. Solche sind z.B. der Caura in seinem nördlichen Theile, der Apure und der Meta in seinem westlichen, und der Cassiquiare nebst dem Iquapo in seinem südlichen Theile. Sehen Sie diese wohl hier auf der Karte?… Ich frage Sie nun, warum könnte einer derselben nicht weit eher der Orinoco selbst sein, als Ihr Guaviare, lieber Varinas, und als Ihr Atabapo, lieber Felipe?«
Es war zum ersten Male, daß eine solche Anschauung zutage trat, und es wird niemand verwundern, daß die beiden Widersacher anfangs still und stumm blieben, als sie dieselbe aussprechen hörten. Die Frage sollte sich also nicht ausschließlich um den Atabapo und den Guaviare drehen?… Nach der Aussage ihres Collegen könnten noch andre Prätendenten auftreten?
»O, ich bitte Sie! rief Herr Varinas, davon kann nicht ernstlich die Rede sein, und Sie sprechen auch selbst nicht im Ernst, Herr Miguel…
– Im Gegentheil, ganz ernsthaft. Ich finde es ganz natürlich, logisch und folglich annehmbar, daß auch andre Flußläufe sich um die Ehre, der wirkliche, eigentliche Orinoco zu sein, bewerben könnten.
– Sie scherzen nur! versetzte Herr Felipe.
– Ich scherze nie, wenn es sich um geographische Fragen handelt, antwortete Herr Miguel
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