Der stolze Orinoco
zuführt, wie bei der zweiten, wo der Guaviare und der Atabapo sich, von den Cordilleren kommend, hinein ergießen, durchweg mit dem prächtigen Namen Orinoco bezeichnet.
Man begriff wirklich nicht recht, warum die Herren Varinas und Felipe sich darauf versteiften die Quellen dieser mächtigen Wasserader in den Bergen Columbiens zu suchen und nicht in dem Gebirgsstock der Sierra Parima, in der Nähe des hohen Roraima, jenes riesigen, zweitausenddreihundert Meter hohen Meilensteins, an dem sich die Ecken dreier südamerikanischer Staaten, die von Venezuela, Brasilien und Britisch-Guyana, berühren.
Hierzu verdient jedoch Erwähnung, daß die beiden Geographen nicht die einzigen waren, die eine solche abweichende Ansicht vertraten. Trotz der Versicherungen kühner Forschungsreisender, die den Lauf des Orinoco fast bis zur Quelle verfolgten, eines Diaz de la Fuente 1760, eines Bobadilla 1764 und eines Robert Schomburgk 1840, trotz der Untersuchungen des unerschrockenen Reisenden Chaffanjon, der die von den ersten Wassertropfen des Orinoco benetzte Flagge Frankreichs auf den Abhängen der Parima entfaltete – ja, trotz all dieser, scheinbar endgiltigen Zeugnisse galt die Frage für manche starrsinnige Geister – richtiger Jünger des Apostels Thomas, die ebenso unbestreitbare Beweise verlangten, wie dieser alte Vater der Ungläubigkeit – doch noch nicht für gelöst.
Wollte man freilich behaupten, daß diese Frage jener Zeit, im Jahre 1893, die Landesbevölkerung besonders beschäftigt hätte, so würde man mit Recht einer Uebertreibung geziehen werden. Zwei Jahre vorher freilich, als das zum Schiedsrichter ernannte Spanien die endgiltigen Grenzen zwischen Columbien und Venezuela festsetzte, nahmen hieran Alle sehr lebhaften Antheil. Dasselbe wäre wohl der Fall gewesen, wenn es sich um die Festlegung der Grenze gegen Brasilien gehandelt hätte. Bei den zweimillionenzweihundertfünfzigtausend Einwohnern aber, unter denen sich auch noch dreihundertfünfundzwanzigtausend »gezähmte« oder in ihren Wäldern und Savannen ganz unabhängig hausende Indianer befinden, und zu denen fünfzigtausend Neger und endlich aus Blutmischung hervorgegangene Mestizen, Weiße, Ausländer, nebst englischen, italienischen, holländischen, deutschen und französischen Farangos gehören, würde es sicher nur eine verschwindende Minderheit gewesen sein, die sich für die erwähnte hydrographische Frage erwärmt hätte. Jedenfalls gab es indeß zwei Venezuolaner, den genannten Varinas, der für den Guaviare, und den genannten Felipe, der für den Atabapo das Recht, sich Orinoco zu nennen, in Anspruch nahm und neben diesen beiden Gelehrten noch einzelne Parteigänger, die jene bei sich bietender Gelegenheit unterstützten.
Es möge jedoch niemand glauben, daß Herr Miguel und seine beiden Freunde etwa alte verrostete Gelehrte mit kahlem Schädel und weißem Barte gewesen wären. Nein! Sie erfreuten sich als Vertreter ihrer Fachwissenschaft eines wohlverdienten, auch über die Landesgrenzen hinausreichenden guten Rufes. Der älteste, Miguel, zählte erst fünfundvierzig, die beiden andern noch einige Jahre weniger. Von Natur sehr lebhaft und demonstrativ, verleugneten sie in keiner Weise ihre baskische Abstammung, die auch die des berühmten Bolivar war und in den Republiken Südamerikas die der allermeisten Weißen ist, welche zuweilen einen Tropfen corsisches oder indianisches, doch nie eine Spur von Negerblut in den Adern haben.
»Ereifern Sie sich nur nicht zu sehr, liebe Freunde!« (S. 10.)
Die drei Geographen trafen Tag für Tag in der Bibliothek der Universität von Ciudad-Bolivar zusammen, und obwohl die Herren Varinas und Felipe übereingekommen waren, die heikle Frage bezüglich des Orinocoursprungs nicht mehr zu berühren, ließen sie sich doch immer wieder zu einer Discussion über dieselbe hinreißen. Selbst nach der so überzeugenden Untersuchung des französischen Reisenden verharrten die Vertheidiger des Atabapo und des Guaviare bei ihrer bisherigen Rede.
Der Leser kennt das aus dem Wortgeplänkel am Anfang dieser Erzählung. Die alte Streitigkeit ging immer weiter fort, so sehr sich Herr Miguel auch bemühte, die Lebhaftigkeit seiner beiden Collegen zu mäßigen.
Er war übrigens eine Persönlichkeit, die schon durch Körpergröße, vornehme, aristokratische Erscheinung, einen braunen, mit einzelnen Silberfäden durchsetzten Vollbart, durch die Wichtigkeit seiner Stellung und den Dreimaster, den er nach dem
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