Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
Vom Netzwerk:
Sonnenaufgang machte ich mich auf den Weg. Im Tunnel war es noch dunkel. Ich atmete die Abgase der Autos ein. Immer, wenn sich ein Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern näherte, presste ich mich an die Tunnelwand.
    Der Pfad am Abgrund war unbefestigt. Ich musste allen Mut zusammennehmen, um ihn zu bewältigen. Tief unter mir erinnerte die Brandung an die bogenförmigen Gebisse von Haifischen. Ich war froh, als ich endlich vor der alten, rissigen Holztür des Turmes stand.
    Nachdem es mir mit einiger Mühe gelungen war, sie zu öffnen, trat ich mit klopfendem Herzen ein. Feuchtwarme Dunkelheit umfing mich; Licht fiel nur durch eine schießschartenähnliche ܖffnung einige Meter über mir.
    Celli hatte Recht. Der ganze Turm war erfüllt von einer eigenartigen, dumpfen, dröhnenden Musik.
    Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass es tatsächlich die Meereswogen waren, die sich am Felsenfundament brachen, deren Rauschen sich im Innern des Turms wie in einem Resonanzraum fing und mehrfach von den Wänden reflektiert wurde, wodurch ein künstlicher, wie von einem Komponisten gestalteter Klang entstand.
    Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich einen kleinen Stuhl, dahinter einen Tisch, auf dem einige Instrumente und Geräte standen. Im Strahl der Taschenlampe, die ich mitgebracht hatte, sah ich, dass der Raum sehr hoch war. Die Decke bestand aus rohen, auf dicken Balken ruhenden Brettern. In einer Ecke lag ein Haufen Gerümpel. Das meiste schienen altertümliche elektrische Geräteteile zu sein, Kupferspulen, Becherkondensatoren, Drosseln, Röhren, Widerstände.
    Bevor ich den Turm wieder verließ, bestieg ich über baufällige Treppen seine Plattform. Wie von einem Adlerhorst blickte man von dort aufs Meer. Mich befiel ein merkwürdiges Gefühl, eine Mischung aus Hybris und Demut. Stand ich nicht hier als Held, der nach den inneren und äußeren Sarazenen Ausschau hielt, die seinen Frieden bedrohten? Und war ich nicht zu feige, um den Kampf aufzunehmen? Oh, ich kannte sie gut, all meine Zweifel, diese gottlosen Heiden. Zweifel an mir selbst, an dem, was ich an Wenigem geschaffen hatte. Bücher, die inzwischen in irgendwelchen Volksbüchereien und Ramschkästen der Antiquariate verschollen waren. Lange Jahre war ich der Illusion aufgesessen, dass Sprache eine Art unvergängliches Leben führt, wenn man sie nur im Herbarium eines Buches getrocknet und gepresst verwahrt. Die Wirklichkeit des Bücherwesens hatte diese Illusion zerstört.
    Als eine andere und weitaus größere Illusion hatte sich die Liebe erwiesen. All meine Versuche, eine feste Beziehung zu einem Menschen zu knüpfen, waren kläglich gescheitert, zerronnen in mühseligen Alltagssituationen, in stupiden Gewohnheiten, in Zwangshandlungen. Drei Ehen hatte ich auf dem Altar meiner inneren Unruhe geopfert. Nach jeder Trennung war in mir die Entschlossenheit gewachsen, nie wieder in eine solche Falle zu gehen. Und doch stand sie seit kurzem wieder weit offen und verströmte einen einzigartigen, unwiderstehlichen und betörenden Duft.
 
    Ich besorgte mir ein Feldbett, einen Kocher samt Geschirr und einer kleinen Kaffeemaschine, ebenso einen Vorrat an Essen und Getränken und einen Kanister Dieselöl für den Generator. Dann lieh ich mir einen Leiterwagen aus und schaffte alles hinaus zum Capo di Vento, samt der alten Schreibmaschine und einem Stapel Papier.
    Auf dem Rückweg kam mir im Tunnel jemand entgegen. Eine schmale, hohe, schwarz gekleidete Gestalt, die sich kaum gegen die Dunkelheit abhob. Nur ein weißes Gesicht schien in der Luft zu schweben.
    »Ich werde mich bald an alles erinnern können, auch an mich!«, rief ich ihr entgegen, als ich sie erkannt hatte. »Dann werde ich endlich lieben können.«
    Carla blieb stehen, lächelte und neigte den Kopf, als deute sie ein Einverständnis an. Als sie an mir vorbeiging, streckte sie den Arm aus und berührte meine Wange flüchtig mit der Hand. Mich durchfuhr es wie ein elektrischer Schlag. Ich sah ihr nach. In der einen Hand trug sie eine große Mappe. Wahrscheinlich war sie mit ihren Bildern unterwegs zu irgendeinem Markt.
    Ich hielt es in der ersten Nacht kaum aus in meinem neuen Domizil. Das Dröhnen der Wellen machte mich verrückt. Keine Erinnerungen stellten sich ein, auch keine Inspiration zu meinem Roman. Ich hatte das Gefühl, in einem mächtigen Bauch eingeschlossen zu sein wie Jonas im Wal oder ich einst im Unterleib meiner Mutter.
    Am Morgen stand ich früh auf

Weitere Kostenlose Bücher