Der Strandlaeufer
sie, was ihren Mann und ihren Sohn anging, niemals durch eine andere Frau Konkurrenz bekommen würde, indem sie uns beiden gleichermaßen eingeimpft hatte, dass Liebe etwas Absolutes sei und dass das Absolute zwangsläufig in den Niederungen menschlicher Wirklichkeit beschmutzt werden würde. Um es in sich rein zu halten, gab es für den Mann nur eines: ewige Treue, für den Sohn hingegen die Pflicht, den jeweiligen Liebespartner, mit dem er gleichsam fremdging, immer wieder zu verlassen. Ja, in diesem Akt der Trennung lag für den Sohn die einzige Möglichkeit, seinen Gefühlen Wahrhaftigkeit zu verleihen. Es war eine teuflische Strategie, die ich mit der Muttermilch eingesogen zu haben schien. Sie selbst hatte ihre seelische Zerrissenheit in einer Art Überehe von fast religiösem Zwangscharakter aufgefangen, in der sie die Rolle der Hohepriesterin innehatte, mein Vater die des Gläubigen. Mir, dem Einzelkind, war die Rolle des Judas zugedacht, des Verräters, dessen subversives Leben jene göttliche Sphäre des Glücks meiner Eltern nicht zu zerstören vermochte, sie vielmehr noch gestärkt hatte.
Wenn ich gedacht hatte, nach dem Tod meiner Mutter würden sich diese Probleme von selbst verflüchtigen, so sah ich mich bald getäuscht. Sie verschärften sich sogar noch. Meine Mutter überlebte in mir, und ihr destruktiver Einfluss kam immer mehr zum Tragen, je älter ich wurde.
Nachdem ich in einer der Strandbars gefrühstückt hatte, machte ich mich auf den Weg zurück zum Turm. Kurz vor dem Tunnel holte mich eine Vespa ein. Es war Carla.
»Das ist für dich abgegeben worden«, sagte sie. Sie reichte mir zwei Briefe. »Sie sind bestimmt wichtig, weil sie aus deiner Heimat sind. Ich habe keine Heimat. Deshalb ist mir alles egal.«
»Carla, können wir nicht mal zusammen ins Kino gehen? Zur Zeit spielt ein alter Film mit Gregory Peck und Sofia Loren. Als ich ein pubertierender Knabe war, schwärmte die halbe Schulklasse für die Loren, die andere Hälfte war für die Lollobrigida. Auch ich gehörte zu dieser Gruppe.«
»Du Ärmster«, sagte Carla. »Dann hattest du natürlich keine Chance. Die Schönste ist Silvana Mangano. Die beiden anderen können ihr nicht das Wasser reichen.«
Sie wendete ihren Roller und gab Gas. Als sie sich noch einmal kurz umdrehte und mir lachend zuwinkte, glaubte ich, in einem der alten italienischen Filme aus den sechziger Jahren zu sein.
Ich ging zum Turm und begab mich auf die Plattform. Es war ein herrlicher Tag, die Luft mild und würzig. Es roch nach Rosmarin und Salbei. Ich öffnete die Briefe. Der eine war von meinem Vater. Der andere von meinem Verleger. Wieder diese seltsame Koinzidenz! Mein Vater schrieb: »Die Uhr hat einen Unfall gehabt und ich auch. Ich habe mich entschlossen, ins Altenheim zu gehen. Es liegt ganz in der Nähe, am Kanal. Ich werde unser Haus nur noch betreten, um die Uhr aufzuziehen. Ich habe versucht, sie zu reparieren. Aber ich bin gescheitert. Würdest du bitte kommen und versuchen, die Uhr wieder zum Laufen zu bringen, wie du es schon einmal getan hast? Und würdest du mir helfen, mein Zimmer einzurichten? Dein Vater.«
Ich erinnerte mich deutlich an jenes Erfolgserlebnis, das über zwanzig Jahre zurücklag. Ich hatte die meinem Vater heilige Uhr repariert, hatte sogar ein neues Steigrad Zahn für Zahn ausgesägt und so lange zurechtgefeilt, bis es funktionierte. Es war einer der seltenen Fälle gewesen, wo ich Lob von ihm geerntet hatte.
Der Brief meines Verlegers war ähnlich knapp. Er drängte, wollte endlich das Manuskript haben, wenigstens Teile davon. Da mein letztes Buch ein kommerzieller Misserfolg gewesen sei, sei es jetzt wichtig, bald ein erfolgversprechendes Projekt nachzuschieben. Der Piratenroman sei genau das, was es jetzt brauchte; er solle meine Reputation beim Buchhandel wieder reparieren. Der Anfang, den ich ihm geschickt hätte, sei übrigens recht brauchbar. Ein gewisser Lesesog, jedoch nicht zu stark. Die Offenheit der flachen Landschaft wie ein Versprechen für ein kommendes, spannendes Geschehen.
Ich ging zurück und kaufte zwei Postkarten, alte, vergilbte Fotos der weißen Stadt. Sie mussten in den zwanziger Jahren entstanden sein, als noch keine Straße zum Ort führte und es keinen Tourismus gab. Fischer saßen am Strand auf ihren Booten und flickten Netze. »Ich bin dabei, mein Schreibnetz zu flicken. Es werden bald einige größere Fische hineingehen, während die kleinen durch die Maschen schlüpfen
Weitere Kostenlose Bücher