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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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können«, schrieb ich auf die Karte an meinen Verleger.
    Meinem Vater teilte ich mit, dass ich so schnell wie möglich kommen würde. Dann warf ich die Karten in den roten Postkasten neben dem Schreibwarengeschäft. Eine Weile lief ich am Meer entlang und dachte an das vielleicht schon bald drohende Lebensende meines Vaters. Ich versuchte mich auf den vorweggenommenen Schmerz zu konzentrieren. Vergeblich. Wie ein Schwarm von Wildgänsen sammelten sich meine Gedanken, zerstreuten sich wieder, berührten fast das Meer, um gleich darauf in einer Wolke aufzusteigen. Ich ertappte mich dabei, laut zu schreien. Zuerst unartikuliert, dann bildeten sich Wörter, Sätze, die jemand in mir rief und aus mir herausschleuderte. »Du Untier, du Verräter!«, hörte ich diese Stimme. Wut und Verzweiflung verzerrten sie. »So leicht kommst du mir nicht davon. So einfach desertierst du nicht aus meinem Leben. Noch bin ich nicht fertig mit dir.«
 

 

Kapitel 12
    Z wei Tage später trat ich die Reise an. Im Zug nach Rom traf ich Carla. Es war reiner Zufall. Oder Schicksal, wie mein Vater es gesehen hätte. Ihr Freund saß neben ihr und hatte den Arm um sie gelegt. Ich setzte mich ihnen gegenüber. Carla sah zum Fenster hinaus. Ich erzählte, dass ich nach Hause zu meinem Vater führe, um ihn noch einmal zu sehen.
    »Mein Vater«, sagte ich, »war ein Bilderbuchseemann. Eigentlich hätte er nach dem Willen seines Vaters Arzt werden sollen, aber dann starb sein Vater an Krebs und er heuerte auf einem kleinen Küstenfrachtschiff als Jungmann an. Er hatte da schon Abitur, eine schwierige Situation für einen, der sich in der christlichen Seefahrt ganz am Anfang befand. Normalerweise heuerte man als Vierzehnjähriger an, denen konnte man alle Dreckarbeiten zumuten. Intellektuelle mochte man nicht an Bord. Doch mein Vater schlug sich im wahrsten Sinne des Wortes durch. Er war Amateurboxer, und das verschaffte ihm bald Respekt. Als er als Leichtmatrose auf die €›Peking€‹ kam, wurde einer der Lukendeckel mit Seilen in einen Boxring verwandelt. Der Größte und Stärkste der Mannschaft trat gegen meinen Vater an. Ein Riese mit gewaltigen Fäusten und einer Brust wie eine Schiffstonne.
    Mein Vater schickte ihn mit einem einzigen gezielten Haken auf die Bretter. Von da an hatte er Ruhe. Er machte Karriere. Später fuhr er auf dem Luftschiff €›Hindenburg€‹. Er stand am Höhenruder, als das Schiff in Lakehurst explodierte und überlebte wie durch ein Wunder. Mir kommt es manchmal vor, als sei es seine Spezialität, Katastrophen zu überleben. Er wurde Walfänger; dann befehligte er im Krieg den nördlichsten UBoot-Stützpunkt bei Kirkenes in Norwegen. Sein Schiff wurde torpediert. Er ging als Letzter von Bord, nicht wie die anderen in die Boote, sondern ins eiskalte Wasser. Wie durch ein Wunder entdeckte man ihn von einem Begleitschiff aus zwischen den treibenden Trümmern und rettete ihn. Er hat insgesamt fünf Schiffsuntergänge überlebt. Manchmal glaube ich, dass mein Alter unsterblich ist. Doch er denkt offenbar anders darüber. Anscheinend geht es ihm nicht gut. Er ist neunzig und will sein Haus aufgeben, um, wie er es ausdrückt, auf einem Seelenverkäufer anzuheuern, einem Altenheim in Norddeutschland. Er hat mich gebeten, ihm beim Umzug zu helfen.«
    Mir war, als versuchte ich Carla das Leben meines Vaters so plausibel wie möglich zu machen, vielleicht um in ihren Augen selbst zu profitieren. Während ich erzählte, spürte ich plötzlich ihren Fuß auf meinem. Sie drückte ihn mehrmals. Dann stiegen die beiden aus. Carla drehte sich noch einmal um und rief: »Schön, dass du in deine Erinnerungen fährst. Grüß deinen Vater von mir. Aber du musst wiederkommen, Zingaro! Versprochen?«
 
    Es war eine lange Fahrt, die ich mit der Stumpfheit von Schlachtvieh über mich ergehen ließ. Als Student war ich fünf Jahre lang immer zu Beginn und zum Ende des Semesters zwischen meinem Elternhaus und meiner Bude in einer süddeutschen Großstadt hin und her gefahren. Damals hatte die Fahrt noch zehn Stunden gedauert. Ich hatte einen Großteil dieser Endlosigkeit im Wagengang am schmutzigen Fenster verbracht mit einem Gefühl, der Hase zu sein, der sich zwischen zwei Igeln totrennt. In einer der Hamburger Vorstädte gab es ein Haus, dessen Fassade aussah wie das Innere eines frisch geleerten Aschenbechers. Graue Strukturen voller Rätsel. Jedes Jahr wartete ich zweimal auf diesen Anblick wie auf etwas Hässliches, in dem doch eine

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