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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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war eine Art blinder Passagier, der sich ausgerechnet auf der Brücke eines fremden Schiffes eingeschlichen hatte. Gegen elf Uhr schloss ich das Haus sorgfältig ab und ging die Dorfstraße entlang. Mein Herz klopfte, als würde mich Unheil erwarten.
    Das Altenheim ist ein flaches, zwischen Bäumen verstecktes Gebäude am Dorfrand in der Nähe des Kanals. Mein Vater hatte es mit Bedacht gewählt, denn er wollte, wann immer es ihm möglich war, Schiffe sehen, diese Liebespartner und Arbeitsplätze seines ehemaligen Lebens. Zwar nörgelte er gerne darüber, dass die Schiffe von heute keine Persönlichkeit mehr besäßen, aber wenn er auf der Kanalböschung stand und ihnen nachsah, bekam sein Blick dennoch etwas Wehmütiges. Er murmelte dann meistens seine Diagnose, die Flagge, die Tonnage, den Tiefgang, die Länge betreffend.
    Ich betrat das zweistöckige Gebäude mit seinem typischen Geruch nach Putz- und Desinfektionsmitteln. Das Haus erinnerte an eine große Fähre, die die Bewohner in Richtung Styx transportierte. Ich war voller Erwartung. Mein Vater hatte also tatsächlich zum letzten Mal die Reederei gewechselt. Er hatte sein eigenes Schiff aufgegeben und auf einem größeren angemustert. Er war jetzt nicht mehr Kapitän, sondern nur noch Passagier. War er weicher geworden? War der Krieg zwischen uns einem Waffenstillstand gewichen oder gar einer Art Frieden?
    Ich musste am Büro der Concierge vorbei. Die Dame, die in diesem kleinen Raum mit einem Fenster zum Eingang residierte, war eine attraktive Blondine €›im besten Alter€‹, wie man so schön sagt. Sie stellte ihre körperlichen Vorzüge ungeniert zur Schau, vielleicht als eine Art Schutzwall gegen das tagtägliche Sterben um sie herum. Sie rief mich zu sich herein. Ich musste mich neben sie setzen, während sie mir die Abrechnungen meines Vaters mit der Kantine zeigte. Er schien danach Unmengen an Lakritzbonbons und Joghurt zu verzehren. »Ihr Vater ist ein ungewöhnlicher Mensch«, sagte sie. »Wir verehren ihn jetzt schon alle. Und er ist sehr zärtlichkeitsbedürftig. Er kommt jeden Tag hier vorbei, um sich seine Streicheleinheiten abzuholen.«
    Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Ich sagte: »Habe ich Sie vor langer Zeit nicht schon einmal gesehen? Hier im Dorf, am Wartehäuschen der Buslinie? Sind Sie nicht Monika? «
    »Soviel ich weiß, heiße ich immer noch Erika«, meinte sie lachend. »Sie können mich gerne auch Monika nennen, wenn Ihnen das lieber ist. Dass wir uns schon einmal gesehen haben, ist gut möglich. Es muss aber ziemlich lange her sein.«
    »Wahrscheinlich haben Sie Recht. Ich war selten zu Hause.«
    »Ihr Herr Vater ist übrigens alles andere als einfach. Er hat seinen Kopf, und den setzt er durch, wo er nur kann. Aber er ist ein so ungewöhnlicher Mensch, dass man ihm fast alles verzeiht. Gestern gab es Ąrger, weil er in der Küche erschien, um sich etwas zu bestellen. Das ist aus hygienischen Gründen streng untersagt. Aber man kann ihm einfach nichts übel nehmen, vielleicht weil man ständig von ihm lernen kann. Was er auch sagt, es ist erstaunlich treffend. Ich versuche oft, mir zu merken, was er so von sich gibt.«
    Sie legte ihre Hand auf meinen Unterarm und drückte ihn sanft. »Sie können froh sein, einen solchen Menschen zum Vater zu haben.«
    Ich nickte vorsichtig, wie jemand, der in einer Ąußerung eine versteckte Kritik an sich heraushört.
    »Sein Zimmer ist die Elf. Im ersten Stock am Ende des Ganges. Wenn Sie etwas brauchen, kommen Sie ruhig immer zu mir.« Sie entließ mich mit einem Lächeln ihrer tadellosen Zähne, das den sie umgebenden Lippen einen unnatürlichen Glanz verlieh.
    Die Tür von Zimmer elf war angelehnt. Doch ich klopfte, ehe ich das Zimmer betrat. Mein Vater saß in einem hässlichen Krankenstuhl und nähte. Er drehte den Kopf nach mir und schien nicht überrascht. »Da bist du ja«, sagte er schlicht. »Meine Hose passt mir nicht mehr. Ich werde immer dünner.«
    Er stand auf, und wirklich, er glich inzwischen einem Schatten seiner selbst. Die Schultern stachen schmal und knochig durch den beigefarbenen Rollkragenpullover. Er ging gebückt, wie unter unsichtbaren Lasten gebeugt. Nur seine Handgelenke und sein Händedruck hatten die alte Kraft und Festigkeit.
    Er öffnete den Schrank und zeigte mir eine Tabelle - die Entwicklung seines Körpergewichts, das er offenbar akribisch zweimal am Tag mit einer Personenwaage ermittelte. Er war gegen Ende seines Berufslebens zum Eichmeister ernannt

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