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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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geheimnisvolle Schönheit wohnte. Immer nur auf der Hinfahrt bemerkte ich diese Häuserwand, niemals jedoch auf der Rückfahrt. All das war Vergangenheit. So etwas wie ein aufgerollter Teppich der Zeit, der schon längst in die Reinigung gehört hätte. Vermutlich war jenes Haus abgerissen oder renoviert worden. Jedenfalls konnte ich es nicht entdecken. Als der Zug über die Kanalbrücke rollte, war alles wie immer. Ich freute mich, ein flaches, langweiliges Land aus der Vogelperspektive zu sehen. Auf dem Kanal sah man einige wenige Schiffe, die von hier oben dem Spielzeug glichen, das wir als Kinder an Schnüren im Wasser hinter uns hergezogen hatten.
    Dann das Einrollen in den Bahnhof. Das Quietschen der Bremsen, der lange Bahnsteig, über den der Wind fegt. Aber etwas war anders diesmal. Sonst stand am Ende des Perrons immer ein kleiner, alter, wind-, wetter- und lebensgegerbter Mann, ein einstiger Kap-Hoorn-Fahrer im blauen Dufflecoat, die Schirmmütze mit dem Abzeichen seiner ehemaligen Reederei auf dem Kopf, ein schiefes Begrüßungsgrinsen im Gesicht, das schon sehr bald in den Missmut einer allgemeinen Weltenttäuschung und speziellen Sohnesenttäuschung überging. Jetzt hatte jemand diesen Windkapitän mit den tränenden Augen sorgfältig aus dem Bild herausgeschnitten, und in dem so entstandenen Loch erschienen die Steine der Bahnsteigpflasterung.
    Ich nahm ein Taxi zum Dorf. Als ich die Haustür aufschloss, fühlte ich mich gut, ja fast euphorisch, obwohl es drinnen kalt und feucht war wie in einer Gruft. Mein Vater war nicht da. Ich ging alle Räume ab und rief seinen Namen. Offenbar war er bereits umgezogen, wie immer ein Mann der schnellen Entschlüsse.
    Ich setzte mich in den Ohrensessel, der für viele Jahre der Thron gewesen war, von dem aus meine Mutter regiert hatte. Plötzlich fiel mir auf, dass die Uhr tatsächlich nicht tickte. Ein fehlendes Geräusch, das mir penetrant laut vorkam.
    Ich ging in den Flur. Da sah ich, wie sehr die alte Standuhr Schaden genommen hatte. Teile des Gehäuses waren gesplittert. Das gotisch geformte Glasfenster vor dem Zifferblatt war in drei Teile zerbrochen und wurde von Tesafilm provisorisch zusammengehalten. Es war ein beunruhigender Anblick. Die Uhr kam mir vor wie ein von einem schweren Unfall verstümmelter Toter.
    Ich wusste, wie sehr mein Vater an diesem Erbstück hing. Es war vor über zweihundert Jahren von dem dänischen Bäckermeister Henning Boysen gebaut worden, kurz nachdem er seine Heimatstadt Sanderborg verlassen hatte, um sich in Wyk auf Föhr niederzulassen. Er musste ein vielseitiger Mann gewesen sein. Meine Eltern hatten mich übrigens nach ihm genannt. Die Uhr, eine Art Familienheiligtum, war meinen Eltern von der Mutter meines Vaters zum Hochzeitstag geschenkt worden. Ihr Ticken hatte meine ganze Kindheit begleitet. Wie eine akustische Naht durchzog sie Stich für Stich meine ersten Lebensjahre und hielt sie zusammen. Das Gehäuse war aus schlichtem Kistenholz, das Zifferblatt mit roten und blauen Blüten an grünen Zweigen bemalt. Die Datumsscheibe zeigte zwei runde, pausbäckige Monde mit großen, mandelförmigen Augen und roten, volllippigen Mündern. Dazwischen eine dreimastige Kogge und eine düstere Burgruine. Der eine Mond war für den zunehmenden, der andere für den abnehmenden Trabanten zuständig. Sie tauchten jeweils auf und verschwanden wieder hinter halbkreisförmigen Wolken auf dem Zifferblatt. Auch das Schiff segelte von links nach rechts mit roten Flaggen übers Meer. Wenn es verschwunden war, erschien die Burgruine zwischen düsteren Bäumen. Das Ganze war so etwas wie mein erstes Kinoerlebnis.
    Immer, wenn die Uhr nicht ging, und das passierte auf Grund des verschlissenen Werkes öfters, machte sich mein Vater daran, sie zu reparieren. Es war eine heilige Handlung, vergleichbar einer Messe. Er hängte die schweren Bleigewichte aus, legte sie behutsam auf dem Teppichboden ab, entfernte das lange Pendel und zog das Uhrwerk aus dem Kasten. Dann reinigte er die Zahnräder, ölte die Lager, schraubte hier und da an etwas herum oder ersetzte den einen oder anderen Splint, der die Messingplatten des Werks zusammenhielt, durch eine zweckentfremdete Stecknadel. Dann baute er alles wieder zusammen. Es schien Magie zu sein, dass die Uhr anschließend wieder ging, vermutlich allein durch die Zuwendung meines Vaters dazu gebracht. Und jetzt das!
    Am nächsten Morgen frühstückte ich allein in der Küche. Es war ein seltsames Gefühl. Ich

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