Der Strandlaeufer
glücklich wirkte. Und vor allem der alte, lederbezogene Ohrensessel, auf dem einst seine Frau bei ihren Fernsehsavncen gethront hatte.
Ich rief an und schlug vor, ihm auch die Standuhr zu bringen. Er wollte nicht. »Sie gehört ins Haus«, sagte er. »Solange ich noch kann, werde ich sie regelmäßig aufziehen, wenn du wieder fort bist. Vorausgesetzt, du schaffst es, sie wieder zum Laufen zu bringen. Später musst du das dann machen.«
Ich bat den Hausmeister, mir zu helfen. Wir brachten in einem Auto alles zum Heim, während mein Vater beim Abendessen war. Ich dekorierte die Wände mit den Bildern, rückte den Ohrensessel ans Fenster und breitete den Teppich vor dem Bett aus.
Als mein Vater vom Speisesaal hochkam, musterte er die Veränderungen mit kritischem Blick. Dann setzte er sich in den Sessel, lächelte und sagte: »Das hast du gut gemacht. Deine Mutter hätte es nicht besser verstanden. Du bist ein guter Sohn.«
Er sah zum Fenster hinaus. Es wurde bereits dunkel, und die Backsteine der gegenüberliegenden Häuserwand wirkten wie ins Glas der Scheibe geritzt. »Eines wird mir immer klarer«, sagte er. »Das Leben in dieser Heimgemeinschaft hat mich in kürzester Zeit verändert wie kein anderer Abschnitt meines Lebens. Bis jetzt war ich immer ein Individuum. Nun aber bin ich ein Mensch ohne eigene Züge, ohne eigenen Willen, abgesehen von den wenigen Augenblicken, die ich in meiner Kammer verbringen darf. Ich bin ein Herdentier, das im Trott der Heimbewohner durch den Tag wandelt. Das ist bequem, sicherlich, so ohne eigentliche Verantwortung für mein Tun und Lassen, immer an die Hand genommen zu werden wie die anderen Besatzungsmitglieder, die von einem Pfleger an ihren Tischplatz geführt werden, weil sie ihren angestammten Platz allein nicht mehr finden können. Selbständigkeit und Eigenwille sind längst untergegangen bei dem Reglement, das in diesem Hause herrscht. So ist der Mensch, der hier lebt, nur noch eine Sache, eine Art Stückgut. Mir schwillt oft der Kamm, wenn ich darüber nachdenke. Dann sacke ich ganz schnell zusammen wie ein Sack verfaulter Kartoffeln und frage mich, was willst du eigentlich? Kannst du es immer noch nicht verwinden, dass du ein Wrack bist, das zu wählen hat zwischen Krematorium oder einem Aufliegeort mit geeigneter Mannschaft, die dich die letzten kümmerlichen Jahre noch schwimmfähig hält? Weil eine Klassifikationsgesellschaft dich nicht mehr aufnehmen will! Nun, ich habe das Letztere gewählt und sage mir, dass das zeitweilige Aufmucken gegen Kraft- und Identitätsverlust eine müßige Kraftverschwendung ist. Ich habe übrigens tatsächlich eine Zeit lang erwogen, mir in Sankt Pauli eine Todespille zu besorgen. Sie soll ungefähr dreitausend Euro kosten und schnell und schmerzlos wirken.«
»Ich bin froh, dass du das nicht gemacht hast. Es geht dir doch gut hier. Das Personal ist sehr freundlich. Das Essen scheint gut zu sein. Und du hast es nicht weit zum Kanal und zu deinem Haus.«
Er lachte kurz auf. »Du hast Recht. Es ist ein prima Etablissement. Und doch habe ich Probleme. Ich war zu lange Kapitän, um wieder ein einfacher Passagier sein zu können. Ich gebe dir ein Beispiel. Es geschah erst neulich, dass ich von dem Vorraum unseres Esszimmers durch die Schiebetür in die Küche ging, um eine dort beschäftigte Person, welche die Geburtstage der Insassen registriert und zur gegebenen Zeit das rituelle Gehabe mit Ausgabe von Tortenstücken unter sich hat und organisiert, zu bitten, auch für meinen Geburtstag, der ja demnächst ansteht, das Nötige zu veranlassen. Die Person war jedoch nicht da, und ich wurde von dem anwesenden Personal auf eine höchst unfreundliche und provozierende Art aus der Kombüse hinauskomplimentiert. Die Begründung lautete knapp, dass es den Heimbewohnern grundsätzlich verboten sei, die Küche zu betreten, weil die Ordnungsbehörden befürchteten, dass sie Keimträger seien und den sterilen Küchenbetrieb verunreinigen könnten. Ich hätte wohl das entsprechende Schild an der Küchentür übersehen. Über diese rüde Behandlungsmethode war ich so empört, dass ich beschloss, mich bei der Leitung zu beschweren und darauf hinzuweisen, dass diese Verfügung, wenn es sie denn wirklich gäbe, ständig unterlaufen würde, wie ich aus eigenen Beobachtungen festgestellt habe. Mit meinem Heimvertrag bewaffnet, begab ich mich in das Büro der Leitung und brachte unter Empörung vor, dass die angeblich vom Gesundheitsamt erlassene
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