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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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in seinem Gesicht. »Ach, du bist es. Du humpelst, mein Sohn, hast du dich verletzt?«
    »Ich hatte einen Fahrradunfall in Italien. Ein Knorpelschaden. Er ist noch nicht ganz ausgeheilt. Nichts Gravierendes. «
    »Das behauptest du! Es gibt nichts Wichtigeres als die eigenen Knochen.«
    Er griff nach seinem Krückstock und stand auf. Dann ging er zum Schrank und öffnete die Tür. Ich blickte in seine Kleiderschatzkammer mit den Tweedsackos, der Kaschmirunterwäsche, den Tropenhemden und der verblichenen Khakiuniform mit den hellen Stellen, wo einmal die goldenen Ąrmelstreifen gewesen waren, als er noch zur See fuhr. Er wies auf die Reihe eng übereinander stehender Striche und Zahlen am Rand der Innentür. Ein neuer war hinzugekommen.
    »Siehst du, ich werde immer kleiner.«
    Er zeigte auf die Gewichtstabelle. »Das sind meine Lademarken. Du siehst, ich war nicht umsonst eine Weile Eichmeister. Zur Zeit nehme ich wieder zu. Aber der Arzt sagt, es sei nur Wasser, das sich im Gewebe einlagert. Es hat also den Anschein, dass ich innerlich langsam flott werde und Wasser unterm Kiel bekomme. Du kommst gerade richtig zum Kirchgang!«
    Er schaltete den elektrischen Kocher an. Ich hatte eine frische Flasche Rum mitgebracht, den, den er am liebsten trank und für dessen Kauf er zu geizig war. Ich schenkte ein, wobei ich mich streng an die einzige von meinem Vater akzeptierte Rezeptur hielt: erst der Zucker, dann das Wasser, dann der Rum. Wir stießen an, ich stellte eine Frage, und wie immer war es, als ob man ein brennendes Streichholz in ein Benzinfass wirft.
    »Wie war das eigentlich mit Onkel John? Hast du inzwischen mehr herausbekommen?«
    Er lächelte das Lächeln des Wissenden. Dann nahm er einige mit Schreibmaschine eng beschriebene Blätter vom Fensterbrett, die er dort offenbar bereits zurechtgelegt hatte, und begann mit seiner wohlklingenden Stimme vorzulesen.
    »Am Weihnachtstag des Jahres 1887 befand sich die Bark €›Frank Wilson€‹ auf ihrer Heimreise nördlich der Azoren auf etwa sechsundvierzig Grad nördlicher Breite und zwanzig Grad westlicher Länge. Es war eine geschätzte Position, berechnet nach den Etmalen, den pro vierundzwanzig Stunden zurückgelegten Distanzen, wobei die Geschwindigkeit so gut es ging mit dem Log ermittelt wurde, eine heikle Sache, denn Meeresströmungen konnten die wirkliche Geschwindigkeit über dem Meeresboden überlagern und so zu falschen Distanzen führen. Der Himmel war seit Tagen bedeckt und verhinderte die Verwendung des Sextanten zur Positionsbestimmung. Der Koch traf in der Kombüse die Vorbereitung für ein Festessen, das diesen Namen an Land wohl nicht verdient hätte, denn man hatte nach vierundzwanzig Tagen auf See keine große Auswahl mehr, was Nahrungsmittel anbelangte. Dennoch wartete jeder einzelne Mann der zehnköpfigen Besatzung aufgeregt wie ein Kind auf den Moment, an dem die Kerzen auf dem vom Zimmermann aus Holzlatten zusammengenagelten Weihnachtsbaum vom Alten eigenhändig angezündet werden sollten. Es war Mittag. Der Zweite Steuermann, der soeben seine Wache beendet hatte, meldete dem Kapitän, dass das Quecksilberbarometer in den letzten beiden Stunden rapide gefallen war. Alles, auch die Art der Bewölkung, deutete auf einen schweren Sturm hin. Zwar war die Hurrikanzeit seit zwei Monaten vorbei, aber dass es auch jetzt noch in diesem Teil der Welt gehörig wehen konnte, war dem Steuermann bewusst. Er habe auch schon einen Jungen veranlasst, die Verschalkung der Luken auf das Genaueste zu überprüfen. Der Kapitän begab sich an Deck, nachdem er den Bericht angehört hatte. Sein Blick über den weiten Himmel und die prallen Segel, die sich weiß gegen dunkelgraue Wolkenschichten abhoben, verriet Ąrger und Besorgnis. Ein Sturm ausgerechnet an Weihnachten, das fehlte noch! Das Deck war nass von Regenschauern. Der
    Kapitän sah, wie sich der Schiffsjunge gerade über die Persenning am vorderen Lukendeckel beugte. Er fuhr mehrmals mit der Hand über den rauen Stoff. Dann drehte er sich um und rannte in Richtung Achterdeck. Es war ein ohnmächtiger, blonder Junge, der sich die Reise über redlich bemüht hatte, den schweren Anforderungen des Schiffsbetriebs gerecht zu werden. Er war siebzehn Jahre. Sein Name war John Jakob Boysen. Es war seine erste Reise, und es sollte auch seine letzte sein. Als er so angerannt kam, dachte der Kapitän, eigentlich ist er für diesen Job zu zart gebaut. Eisen, das man schmieden will, darf nicht zu weich sein. Der

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