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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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Junge blieb außer Atem vor dem Kapitän stehen und nahm Haltung an. €›Was gibt es, John?€‹, sagte der Kapitän. Da Weihnachten war, bemühte er sich um Milde in seiner Stimme. Der Junge stammelte: €›Die Persenning auf Luke Eins ist völlig trocken, obwohl es den ganzen Tag geregnet hat. Sie fühlt sich ganz warm an.€‹ Kapitän und Steuermann sahen sich an. Beide wussten sie nur zu gut, dass die Ladung, die sie in den Laderäumen mit sich führten, gefährlich war. Es war Kopra, die getrockneten Kerne der Kokosnuss, und Kopra neigt zur Selbstentzündung, wenn es feucht wird. Beide wussten auch, dass der Zustand der Persenning und der Lukendeckel nicht mehr zum Besten war nach den harten Wochen am Hoorn. Sie eilten die Treppe zum Deck hinab und betasteten die vordere Luke. Die Meldung des Jungen stimmte. Fast sah es aus, als ob Dampf von der glatt gespannten Persenning aufstieg. Es würde nichts werden mit dem Heiligen Abend.
    Man hatte einen Schwelbrand an Bord. Da wäre es wohl absurd, auch noch Kerzen anzuzünden. Plötzlich schrie der Kapitän den Jungen an, er solle nicht so herumstehen. Nicht so lächerlich unwichtig herumstehen und gaffen. €›Hol sofort alle Leute zusammen!€‹, brüllte der Kapitän. John Jakob eilte davon. Als der Sturm wenig später in voller Stärke hereinbrach, waren die Männer dabei, Wasser in den vorderen Laderaum zu pumpen. Die €›Frank Wilson€‹ lag beigedreht, und ihr Bug stach wie ein Messer in die immer fetter werdenden Wellenbäuche. Zwei Stunden später war das Feuer gelöscht, doch die Stabilität der Bark war nun so geschwächt, dass sie von einer riesigen Welle zum Kentern gebracht wurde und mit Mann und Maus unterging.«
    Er sah auf und hielt mir sein leeres Grogglas hin. Er hatte Tränen in den Augen. »Nicht so viel Wasser«, sagte er. »John Jakob war der Onkel meines Vaters, mein Großonkel also, dein Urgroßonkel.«
    »Woher weißt du das alles so genau? Du bist doch nicht dabei gewesen!«
    »Und ob ich dabei war, wenn auch nur in Gedanken.«
    »Das nenne ich eine ziemlich exakte Phantasie. Du hättest Schriftsteller werden können.«
    »Rede nicht solchen Unsinn. Ich habe überhaupt keine Phantasie«, schimpfte er. »Deine Mutter hatte Phantasie. Und du hast Phantasie. Ich habe nur Erfahrung. Der Schriftsteller bist du. Außerdem gibt es Dokumente. Ich habe sie da hinten im Schrank.«
    Er erhob sich und ging zu einem Büroschrank, der voller Aktenordner war. Er zog einen von ihnen hervor, schlug ihn auf und sagte:
    »Im Oktober 1888 erhielt mein Urgroßvater Heinrich Boysen folgenden Brief aus Elsfleth an der Elbe, datiert vom Onkel seiner Frau, dem Reeder Conrad Paulsen.« Er begann vorzulesen. »Sehr geehrter Herr Boysen, da jetzt keine Hoffnung mehr ist für die €›Frank Wilson€‹ und Euren lieben Sohn, so sende ich Euch heute per Postanweisung Kurant 138,78 als Guthaben Eures geliebten Kindes, wofür Ihr beigefügte Abrechnung mir wohl quittiert retournieren wollt. Ich bin drei Wochen nach London verreist gewesen, von wo ich vorigen Montag zurückgekommen. Ich habe in London wieder ein großes, schönes, eisernes Schiff, €›Rialto€‹ genannt und 1182 Registertons groß, gekauft. Simon wollte mir Käse schicken, solche sind aber noch nicht eingetroffen, ich bitte, Simon noch mal daran zu erinnern, da er es wahrscheinlich vergessen hat. Ich und Peter und Frau sind munter und wohl, was ich ein Gleiches von Euch Lieben alle hoffe. Euch Lieben alle herzlich grüßend schließe ich und verbleibe Euer Euch liebender Onkel C. Paulsen.«
    Er legte den Brief beiseite und blickte mich missbilligend an, als sei ich ein Angeklagter, der soeben mit einem wichtigen Indiz seiner Schuld konfrontiert worden war.
    »Ist es nicht ziemlich herzlos, im selben Atemzug mit der Todesnachricht Käse anzumahnen?«, fragte ich.
    Mein Vater schüttelte den Kopf. »Sentimentalität war damals nicht üblich. Gefühlsduselei lag einem Manne fern. Paulsen wusste, dass er verstanden wurde. Der Mann, dem er den Tod seines Sohnes mitteilte, war ebenfalls Seemann. Es war Berufsrisiko, ein solches Schicksal zu erleiden.«
    Er sah auf. Sein Blick fiel nach draußen auf die regenglänzende Häuserwand und drückte namenlose Trauer aus. Mein Blick galt dem Zimmer. Das Foto seiner Frau, die Bettschüssel unter dem Bett, der Fernseher, der Perserteppich, ein trübes, deprimierendes Ambiente, das ihm dennoch zu gefallen schien.
    »Es gibt noch ein zweites Dokument zu dem Vorfall.

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