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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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angekündigt war, glaubte man an einen Ernstfall.
    Meine kindliche Hybris war grenzenlos. Heute weiß ich, dass sie die logische Kehrseite der Entdeckermentalität ist. Es gibt keinen Entdecker, der nicht am Syndrom der Selbstüberschätzung leidet. Sie treibt ihn voran ins Unentdeckte, ins nicht von der Realität der Menschenwelt Befleckte.
    Nach dem erzwungenen Aufenthalt auf der €›Wikinger€‹ ging es zurück in den Krieg mit seinen dunklen Kellernächten und den Säcken voller Angst auf schwarzen Buckeln. Nur noch einmal sah ich mein Schiff wieder. Wir besuchten meinen Vater in Hamburg. Die €›Wikinger€‹ lag zur Reparatur im Dock. Beim großen Luftangriff auf diese Stadt wurde sie mittschiffs getroffen. Die Brücke brannte vollständig aus. Auf dem Arm meiner Mutter schwebte ich wenig später durch brennende Straßen über die Elbbrücken nach Harburg. Von dort ging es weiter im Zug gen Süden, an ausgebrannten Waggons vorbei und Lokomotiven, deren von Geschossen durchsiebten Eisenleibern Dampffontänen entströmten. Feuer wärmte und tötete, am Himmel zuckten die Finger der Flakscheinwerfer, im Garten und auf den Straßen brannten kleine Lagerfeuer der Phosphorbomben. Einmal, als Entwarnung war, ging ich hinaus auf die Straße. Die ganze Welt war bemalt, Bäume, Wege, Hausdächer, alles mit gelbem Lehm bedeckt. Er stammte aus den vielen Bombentrichtern. Plötzlich erschien ein riesiges brummendes Insekt über mir. Sein Stachel stanzte kleine Löcher in den Asphalt der Adolf-Hitler-Straße. Eine Frau riss mich am Arm in einen Hauseingang. Ein Tiefflieger hatte mich beschossen, und meine Mutter ließ mich fortan nicht mehr hinaus, auch wenn Entwarnung war.
    Bei meinem Freund Horst Landefeld war eine Brandbombe in die Kloschüssel gefallen. Diesmal half kein Märchenbuch. Wir versuchten sie wegzuspülen. Es ging nicht. In unserem Haus war eine Brandbombe durchs Dach ausgerechnet in die Sandkiste gefallen, die dort zum Löschen stand. Mein Onkel Walter war auf dem Dach und tötete die Flammen, indem er mit einer Schaufel auf sie einschlug. Dann kamen viele vor kurzem verschüttete Kinder ins Haus.
    Sie hatten alle aufgedunsene Gesichter und zugequollene Augen vom Mörtelstaub. Ein kleiner Junge, so alt wie ich, zuckte ohne Pause. Ich heulte, weil er meinen geblümten Morgenrock tragen durfte.
 
    Einen Tag vor dem Heiligabend des ersten Friedensjahres kam mein Vater aus norwegischer Gefangenschaft zurück. Eine schöne Bescherung, jedenfalls für meine Mutter. Sie freute sich aus meiner Sicht viel zu sehr. Der große Mann, der da zurückgekommen war, gefiel mir nicht besonders, obwohl er mir eine Rolle klebriger Bonbons mitgebracht hatte. Ich musste das Ehebett verlassen, in dem ich Jahre an der linken Seite meiner schönen Mutter geschlafen, geträumt und geliebt hatte. Ich kam in mein altes Gitterbettchen. Ich schob die Hand zwischen den Holzstangen hindurch und bohrte mit dem Finger ein Loch in den Mörtel der Wand.
    Der Frieden ließ sich nicht gut an. Er bestand aus lauter Kleinkriegen. Ich begann zu klauen wie ein Rabe. Raben sind schwarz, ich war ein weißer Rabe, unschuldig, weil ich Schuld und Unschuld zu vertauschen vermochte, blitzschnell und nach Bedarf. Ich klaute sogar dem Koch des amerikanischen Hauptquartiers die Stablampe, ein Verbrechen, auf das wenige Wochen nach dem Kriegsende standrechtliches Erschießen als Strafe stand. Meine Mutter brachte mich zurück in die Küche und gestand unter Tränen meinen Frevel. Statt bestraft, wurde ich reich beschenkt mit Ananas, Erdnüssen und Cornflakes.
    Einige Wochen nach seiner Rückkehr arbeitete der neue Herr im Hause als Holzfäller im Wald. Wir brachten ihm die dünn belegten Brote. Ich sah die blitzende Axt in seinen Händen, sah, wie sie in die Rinde großer Stämme drang. Dann organisierte der Vater meiner Mutter einen alten, italienischen Güterwagen. Wir zogen in den Waggon, mitsamt der Standuhr und einem Kanonenofen. Sieben Tage ging es gen Norden. Wir fuhren meistens nachts. In Bahnhöfen mussten wir das Ofenrohr einziehen, denn solche Touren waren verboten. Wir froren dann bitterlich. Es ging auf Ablaufberge, von wo aus die Züge neu zusammengestellt wurden. Beim Herunterrollen hielt mein Vater die Standuhr fest. Der heftige Aufprall warf uns zu Boden. Die Möbel waren sorgfältig festgezurrt. Wir befanden uns in einem rollenden Schiff. Je weiter wir nach Norden kamen, umso heftiger blies der Wind durch die Ritzen des Waggons. Mein

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