Der Strandlaeufer
Vater begann, sie mit Wollfäden und aufgetrennten Betttüchern zu kalfatern. Es konnte keine spannendere Annäherung an ein Ziel geben. Unser Ziel war eine Insel im Meer, die Heimatinsel meines Vaters. Dort hoffte er, Arbeit zu finden. Als wir jetzt, im März 1947, mit dem Güterwagen auf der Mole von Dagebüll eintrafen, schob mein Vater die große Schiebetür zur Seite. Der stürmische Salzwind ließ meine Augen so stark tränen, dass ich das Meer nicht gleich sah. Ich sah nur mein salziges Augenwasser. Doch dann tauchte aus ihm wie ein riesiger grauer Walfisch mit geriffelter Haut das echte Meer auf. Ein Anblick, der über mein Fassungsvermögen ging. In diesem Moment wurde ich für alle Zeiten zu einem Seefahrer zu Lande.
Wir wohnten in einem Haus direkt am Strand im dritten Stock. Die große Veranda ging aufs Meer hinaus. Es war die Brücke, auf der ich oft stundenlang auf und ab lief und den Horizont nach anderen Schiffen absuchte. Fast immer war der lange Geleitzug der Halligen mit ihren Warften zu sehen, manchmal, bei klarem Wetter auch die ferne Küste des Festlandes. Der Flaggenmast auf dem Rasenplatz vor unserem Haus war in Wirklichkeit der vordere Schiffsmast. Mein Schiff war groß, viel größer als die ›Wikinger‹. Es war so riesig, fast zwölf Kilometer lang, dass ich das Deck mit dem Fahrrad abfahren musste, um von Steuerbord nach Backbord zu gelangen.
Die einheimischen Kinder lehnten mich ab, sie wollten nicht mit mir spielen, denn für sie war ich ein Fremder, ein Eindringling. Sie ahnten ja nicht, dass sie auf meinem Schiff nur geduldet waren, als Passagiere oder menschliche Prisen. Ich konnte sie jederzeit über die Planke gehen lassen. Das war die lange Mittelbrücke, die hundert Meter ins Meer hinausragte. Bei Ebbe lag mein Schiff auf dem Trockenen, umgeben von Schlick und Sand. Dann kam die Flut mit ihrer reißenden Strömung grünen Wassers, und wir wurden wieder flott. Ab ging es Richtung Norden, die Brandung am Strand war die Bugwelle. Doch erreichten wir Dänemark nie wegen widriger Gegenwinde.
Fast zehn Jahre war ich Kapitän auf diesem Schiff. Eine schöne Zeit, die schönste meines Lebens, trotz mancher Meuterei, manchen Ärgers mit der Besatzung. Ich hatte inzwischen begonnen, eine naturwissenschaftliche Karriere zu machen, von der nur ich zu wissen schien. Ich tötete Fliegen mit einem Funkeninduktor, und ich sah so lange und häufig durch mein selbstgebautes astronomisches Fernrohr, bis ich nach Belieben die Welt auf dem Kopf stehend sehen konnte.
Als ich mein Schiff aufgeben musste, weil mein Vater eine Anstellung als Reedereiinspektor bekam und wir deshalb aufs Festland zogen, war ich untröstlich. Auf dem Schrottplatz am Ententeich entdeckte ich das Wrack eines großen Lastwagens. Ich besorgte mir Schraubenschlüssel, baute den Anker der Lichtmaschine aus und schleppte ihn nach Hause. Wieder war es Kupfer, das mich in seinen Bann schlug. Eine große, mehrere Kilo schwere Kupferspule, deren Rotation in einem Magnetfeld einst Strom und Licht erzeugt hatte. Ich wollte den Anker mitnehmen, aber mein Vater verbot es mir. Ich weinte; für einen Sechzehnjährigen ein verrücktes, infantiles, pubertäres Verhalten, das besser zu einem Zehnjährigen gepasst hätte. Schon damals deutete sich an, dass ich seelisch halb so schnell alterte wie körperlich.
Kapitel 19
A ls ich die Stuhlprobe machte, hätte ich am liebsten ›Peterchens Mondfahrt‹ dabeigehabt. Später fuhr ich mit dem Rad zum Supermarkt und kaufte zehn Packungen Lakritzbonbons. Dann erschien ich zur vereinbarten Zeit in der Arztpraxis. Es war neblig, draußen und auch im vollen Wartesaal. Überall diffuse Gesichter, Menschen, denen irgendein Leiden ein Stückchen Individualität genommen und zugleich in veränderter Form zurückgegeben hatte.
Ich blätterte in einer dieser Zeitschriften, in denen Bilder und Texte den Eindruck vermittelten, alles sei schöner, besser, spektakulärer, einschließlich der Leiden und Katastrophen, als das, was normalen Menschen vergönnt war. Verstohlen sah ich mich um. Niemand hier war schön oder heroisch oder auf spektakuläre Weise krank. Viele blätterten wie ich in einem dieser Journale, ohne dadurch verunsichert zu werden. Es gab nur eine Erklärung: Die Menschen hier fühlten sich gar nicht hässlich, überflüssig oder schwach. Die Hybris des Durchschnittlichen war dem Lebensgefühl und der Eitelkeit der Helden und Prominenten vermutlich sogar weit
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