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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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oggi alla torre. Komm heute zum Turm.«
    Hatten die Kondensatoren so viel Strom gespeichert, dass das Radio eine Weile laufen konnte, ohne angeschaltet zu sein? Ich stellte es wieder an. Die Skalenbeleuchtung brannte zwar, aber eine der Röhren glühte nicht mehr. Ihre Heizfäden waren offensichtlich durchgebrannt. Wahrscheinlich hatte ich mir die Stimme nur eingebildet. Vielleicht hatte ich einfach Heimweh nach Marconis Turm.
 
    In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich hörte plötzlich die Stimme meiner Mutter. Sie kam aus dem Kissen, auf dem ich lag. Ich warf das Kissen aus dem Bett. Nun schien die Stimme aus den Tapetenblumen zu kommen, dann aus dem schwarzweißen Webteppich an der Wand, auf dem Ritter und ihre Damen dargestellt sind, die Ritter stehend, das Schwert von sich gestreckt, die Damen vor ihnen kniend, mit zurückgelegtem Haupt. Die Stimme meiner Mutter kam auch von draußen, vom Flur, unter der Tür mit dem dünnen Lichtspalt kroch sie hindurch. Sie war allgegenwärtig, und es nützte nichts, dass ich mir die Ohren zuhielt, dass ich den Kopf unter die Decke steckte und halblaut vor mich hinsprach, Beschwörungsformeln der Vergangenheit wie €›Du sollst brav sein€‹ oder €›Komm einmal her zu mir€‹.
    Immer wenn ich einzuschlafen versuchte, wurde ich von einer wahren Sintflut von Bildern heimgesucht. Sie entstammten zum Teil einer Zeit, als ich im Alter von drei Jahren zu einer Art Walfänger geworden war. Das Walfangmutterschiff €›Wikinger€‹ lag damals in der Kieler Förde auf Reede und diente als Kraftdurch-Freude-Schiff für die in Kiel stationierte U-Boot-Flotte. Mein Vater war Erster Offizier. Er hatte das Glück, bei der Handelsmarine bleiben zu können. Dies war der Grund dafür, dass er nicht auf einem Kriegsschiff zum Einsatz kam, sondern auf einem Hilfsschiff, das der seelischen und geistigen Aufrüstung der Truppe diente.
    Meine Mutter und ich wohnten in Heikendorf in einer Pension. Mein Vater blieb zuweilen über Nacht. Meine Eltern gingen ins Kino. Man ließ mich wie selbstverständlich allein. Ich verspürte ein menschliches Rühren, ging auf den Topf, wischte mir gründlich den Po ab und legte ein großes Bilderbuch, €›Peterchens Mondfahrt€‹, über den Topf, damit es nicht so stank. Es war meine Idee. Meine erste kulturelle Leistung. Niemand hatte mich dazu aufgefordert.
    In diese Zeit fiel meine erste Liebe. Die Pensionstochter und ich spielten im Hühnerstall, krochen durch den Hühnertunnel voller Hühnerkot. Wir bewarfen uns damit. Viele Jahre später, als Sechzehnjähriger, kroch ich noch einmal zusammen mit meinem Freund Rolle Goos durch einen solchen Tunnel. Er führte zur Rückseite des Bordells. Wir kletterten die Mauer hoch und sahen in den Hinterhof. Unter der Laterne über dem Eingang stand ein Mann und rauchte. Wir erschraken so sehr, dass wir durch die Hühnerfäkalien zurückrobbten und in der Dunkelheit über ein weites Feld entkamen. Ich rannte in vollem Lauf in einen Stacheldraht, riss mir die Hose und das Bein auf, blutete wie ein Schwein und wurde in Rolles Wohnung von dessen Mutter notdürftig verpflastert. Ich saß neben Rolle in der Schule. Er war ein Witzbold und hatte sich darauf spezialisiert, bedeutende Furze loszulassen. Ich lachte und erhielt im folgenden Zeugnis deshalb statt meiner üblichen Eins eine Drei in Biologie, weil der Biologielehrer, ein unverbesserlicher Nazi, just in diesem Moment von den Geheimnissen der menschlichen Vermehrung geredet hatte. Er empfand mein Lachen wohl als Blasphemie gegenüber der Rassenkunde und beschimpfte mich vor der Klasse als moralisch verrottet. Im folgenden Schuljahr saß ich nicht mehr neben Rolle Goos, und meine Zensur in Biologie erholte sich.
    Damals in Heikendorf erlebte ich auch meinen ersten Bombenangriff. Wir saßen mit allen Pensionsgästen, den Inhabern, meiner Mutter und meiner Geliebten in einem winzigen, schmutzigen Keller. Die Detonationen, das Abwehrfeuer, das angstvolle Stöhnen der Erwachsenen, die erdrückende Umarmung meiner Mutter, die Augen meiner Freundin, die weit aufgerissen waren und mich anstarrten, als erwarte sie eine Heldentat von mir. Ich war dreieinhalb Jahre alt und mir sicher, dass ich den Krieg gewinnen konnte.
    Als wir wieder einmal zum Schiff hinausfahren wollten, herrschte Sturm. Die Barkasse der €›Wikinger€‹ lag heftig dümpelnd am Kai mit laufendem Motor. Wir kletterten über eine schwankende Lotsenleiter die Molenmauer hinab und fuhren ab. Meine

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