Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
Vom Netzwerk:
überlegen.
    Eine Schwester führte mich in ein kleines Zimmer mit Schreibtisch, einer Liege, einigen Geräten. An den Wänden Kunstdrucke von Bildern van Goghs. »Machen Sie sich frei«, sagte sie. »Der Doktor kommt gleich.«
    Der Hausarzt meines Vaters untersuchte mich schweigend und gründlich, maß meinen Blutdruck, meine Größe, mein Gewicht, klopfte Brust und Rücken ab, zog sich einen Plastikhandschuh an und tastete durch den After die Prostata ab. Dann durfte ich mich wieder anziehen.
    Wir saßen uns gegenüber. »Ihr Blutdruck ist zu hoch«, sagte er. »Sonst kann ich keine Anomalien feststellen. Warten wir die Laborergebnisse ab. Wichtig ist vor allem, dass Ihre Prostata nicht vergrößert ist. Lassen Sie sich bitte noch Blut abnehmen und geben Sie eine Urinprobe ab. Ich rufe Sie an, wenn ich die Laborwerte habe.«
    Er entließ mich mit einem festen Händedruck. Draußen schwang ich mich aufs Fahrrad wie ein Reiter aufs Pferd, der sich sicher ist, jede kommende Hürde nehmen zu können auf dem Parcours des Lebens. War es da ein Wunder, dass sich, während ich am Kanal entlang zum Altenheim fuhr, der Nebel lichtete und die Sonne die ganze Welt mit Gold galvanisierte?
    Ich sprang die Treppe hoch und trat ein ohne anzuklopfen. Mein Vater saß wie immer im Ohrensessel. Der Fernseher lief. Er aber sah zum Fenster hinaus. Ich gab ihm die Lakritzschachteln, und er verstaute sie in einem Kühlschrank im Flur. Dann saßen wir beim Kirchgang. Irgendwann fragte ich ihn nach meiner Mutter. Ich hatte drei Groggläser gebraucht, um den Mut dazu aufzubringen. Er starrte mich eine Weile schweigend an. Dann stellte er das Grogglas auf das Beistelltischchen zurück und sein Blick schien zu erlöschen. »Ich habe sie geliebt. Sie war eine gute Frau. Sie hat es schwer gehabt. Du musst es selbst am Besten wissen. Die langen Kriegsjahre, der Mann an der Front, im hohen Norden, dann in Gefangenschaft. Die Angst um den Sohn in den Bombennächten. Sie hat mir erzählt, wie sie sich bei den Angriffen über dich warf, um dich mit ihrem Leib zu schützen. «
    »Gerade das hat mir damals große Angst gemacht. Sie hat noch eine Daunendecke über sich gelegt, so dass ich unter all den Schichten zu ersticken glaubte. Unten ich mit meinen vier Lebensjahren, dann sie mit ihrem schlanken Körper, darüber die Daunendecke, schließlich die von Balken verstärkte Decke des Kellerraums.«
    »Ich habe nie vor etwas Angst gehabt. Im Krieg nicht, auch nicht, als der €›Hindenburg€‹ abstürzte und ich den richtigen Moment abpasste, um so aus dem Fenster der Gondel zu springen, dass ich mir nicht die Knochen brach. Ich habe immer blindes Vertrauen in das gehabt, was manche Schicksal nennen. Ich würde lieber Zufall sagen.«
    »Du meinst damit nicht Willkür, sondern eine Art Zufall, der weiß, was er will.«
    Er nickte. Er wirkte so zufrieden, dass ich den Augenblick für günstig hielt, ihm meinen Entschluss mitzuteilen, den ich spontan auf dem Weg ins Heim gefasst hatte.
    »Mein Verleger hat mich angerufen. Er will mich sprechen«, log ich. »Ich werde morgen früh fahren. Aber ich komme bald wieder.«
    »Das wird auch nötig sein«, sagte er. »Glattwale wie der Pottwal schwimmen, nachdem man sie erlegt hat, während alle Furchenwale wie der Blau- und der Finnwal untergehen. Ihre Speckschicht ist nicht dick genug, um sie von selbst schwimmen zu lassen. Ihre Knochen sind zu schwer. Deshalb hat man bis ins neunzehnte Jahrhundert nur Glattwale wie den Grönlandwal gejagt. Deshalb war auch Moby Dick ein Glattwal. Erst als man gelernt hat, Tierkörper wie riesige Schlauchboote aufzupumpen, war die viel lukrativere Jagd auf Furchenwale möglich. Sieh mal hier!«
    Er entblößte seinen Arm und hielt ihn mir entgegen. Der breite Knochen des Handgelenks stach deutlich ab vom mageren Ober- und Unterarm. »Siehst du? Es ist deutlich, ich bin ein Furchenwal. Ich werde schnell untergehen nach meinem Tod.«
 

 

Kapitel 20
    I ch rief meinen Verleger an. Erstaunlicherweise erreichte ich ihn sofort. »Ich fahre morgen nach Italien zurück. Können wir uns sprechen?« Er räusperte sich. Dann hörte ich, wie er lange in seinem vermutlich wie üblich vollen Terminkalender blätterte. »Ja, das geht sogar. Wir können zusammen Mittag essen.«
    Am Morgen zog ich die Uhr auf, packte mein selbstgebautes Radio in einen Karton, um es mitzunehmen, und bestellte ein Taxi. Es war wohl eine Art Flucht, vor meinem Vater und vor den Werten der

Weitere Kostenlose Bücher