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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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Mensch mit ungewöhnlichen Wünschen oder Neigungen, zum Beispiel mit abnormen Rachegefühlen? So jemand war Ahab. Mit ihm konnte man sich kaum identifizieren. Diese Figurenkonzeption eignete sich am Besten zu einer zentralen Nebenrolle wie dem klassischen Bösewicht. Der vierte Fall: ein gewöhnlicher Mensch mit gewöhnlichen Bedürfnissen in einer gewöhnlichen Lebenssituation. Auch das konnte einen Roman tragen. Aber dann musste etwas anderes in die Heldenrolle schlüpfen, zum Beispiel die Sprache selbst. Fiel mein Vater während seiner zweiten Lebenshälfte nicht in diese Kategorie und hatte er vielleicht deshalb diese enorme und eindrucksvolle Redseligkeit entwickelt, die einem Versuch entsprungen sein konnte, sich wie Münchhausen am eigenen Zopf der Sätze aus dem Sumpf des Alltäglichen zu ziehen?
    Meine Mutter passte eher in die zweite Kategorie. Sie war Malerin wie Carla, hochbegabt, zerrissen, ungewöhnlich, doch sie hatte gewöhnliche Bedürfnisse. Sie wollte Frieden, ein harmonisches Heim. Und als der Krieg zu Ende war und sie sich in einer durch und durch gewöhnlichen Situation als Ehefrau und Haushaltsführerin befand, kam die Unzufriedenheit. Ihre Fluchtwege und -mittel waren Alkohol und Inszenierung gewesen. Dass ich mich an ihr junges Gesicht nicht erinnern konnte, hing vielleicht damit zusammen, dass ich, als ich geistig erwachte und beobachten lernte, Zeuge ihrer schrecklichen Mutation wurde und dies nicht mit meiner extremen Liebe zu ihr vereinbaren konnte.
    Ich wartete auf Carla. Um mir die Zeit zu vertreiben, holte ich den Karton mit meinem alten Empfänger. Da ich wusste, dass die Glühfäden der Audionröhre gebrochen waren, wechselte ich sie gegen eine der Röhren aus, die ich im Gerümpel gefunden hatte. Dann schaltete ich die Stromversorgung ein. Die Glühfäden begannen tatsächlich zu leuchten. Ich hielt das Ohr an den Lautsprecher. Doch es war nichts zu hören, nur das Rauschen des Meeres, das sich im Turm wie in der Sicke eines überdimensionalen Lautsprechers fing.
    Carla kam nicht. Auch am nächsten Tag setzte ich meine Versuche fort, das Radio zum Laufen zu bringen. Ohne Erfolg. Vielleicht war der Empfang hinter diesen dicken Mauern einfach zu schwach. Ich fand im Gerümpel einen langen Kupferdraht und spannte ihn von einer der Turmzinnen zu einem Busch am Berghang. Die Enden hatte ich mit Porzellanisolatoren versehen. Es war eine geerdete L-Antenne ohne große Richtwirkung. Marconis Erfindung. Von ihr führte ich einen Draht ins Innere des Turmes zum Radio. Die gewünschte Wirkung blieb freilich aus. Doch hatte ich bei diesen Arbeiten das Gefühl, wie einst beim Basteln mit Radiogeräten, besonders entspannt und ruhig zu sein. Ich spürte, dass ich der Vergangenheit näher kam. Es war, als wüchse alte Zeit mit ihren Bildern, Stimmen und Situationen aus dem stummen Lautsprecher und ranke sich um den Bogen der Stille. Auch jenes dumpfe Dröhnen des Meeres, das bei stürmischen Tagen das Turminnere zum Schwingen brachte, wirkte offenbar stimulierend auf mein Erinnerungsvermögen.
    Vielleicht konnte man einen Zweikreiser aus dem Radio machen. Also einen Empfänger mit höherer Empfindlichkeit und besserer Trennschärfe. Ich machte mich ans Werk, vermutlich nur, weil ich so vermied, meine eigentliche Arbeit, das Schreiben des Piratenromans, zu beginnen.
    Ich baute die Schaltung auf einem Holzbrett auf. Seine Maße gestaltete ich so, dass es exakt in einen Mahagonikasten mit Doppeltür passte, den ich im Gerümpel gefunden hatte. Das Holz isolierte ich gegen Brummeinstreuung, indem ich es mit Stanniolpapier beklebte. Besonders viel Sorgfalt verwendete ich auf die Stromversorgung. Dabei verwendete ich die Bauteile aus meinem eigenen mitgebrachten Empfänger: Netztrafo, Siebdrossel, Audion- und Gleichrichterröhre, Drehkondensator. Als Lautsprecher benützte ich wieder meinen alten Freischwinger.
    Als ich nach zwei Tagen fertig war, machte ich eine Weinflasche auf und wartete den Abend ab. Nach Sonnenuntergang würde der Empfang weitaus besser sein als am Tage, weil dann der sogenannte Daylighteffekt fehlte, der Marconi bei dem Versuch, den Atlantik mit drahtlosen Signalen zu überbrücken, solche Schwierigkeiten gemacht hatte.
    Als es so weit war, schaltete ich die Stromversorgung ein. Anfangs leuchtete nur das Skalenlämpchen. Dann kam aus dem Lautsprecher ein leises Brummen, ein Zeichen dafür, dass die Heizfäden der beiden Röhren zu glühen begonnen hatten.
    Ich schloss den

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