Der Strandlaeufer
schweren Zeiten sollte man es mit den Konventionen nicht allzu genau nehmen. Wir sitzen doch angesichts der Bedrohung alle in einem Boot.«
Sie gewöhnt sich erstaunlich schnell an den Namen Walter, der ihr eigentlich zu vulgär für einen verkappten Dichter vorkommt. Die Getränke steigen ihr zu Kopf; sie raucht eine dünne Damenzigarette mit schwarzem Papier, die Walter hat kommen lassen. Einmal nimmt ihr Gegenüber ihre feingliedrige Hand und drückt sie fest. »Du bist eine tapfere Frau«, sagt Walter. »Der Mann so weit weg in einem heldenhaften Kampf. Das Kind noch so klein und schutzlos.«
Sie hört sich seufzen. Es tut gut, mit einem verständnisvollen Menschen zusammen zu sein. Man kann von einer vierunddreißigjährigen Frau nicht verlangen, sich nur um Haushalt und Kind zu kümmern. Wie aus Versehen fällt ihr Blick auf ihre kleine, vergoldete Armbanduhr. »Mein Gott, so spät ist es schon«, sagt sie. »Der letzte Zug geht in zwanzig Minuten. Ich muss sofort los.«
Herr S. beruhigt sie, indem er seine Hand auf ihre legt. »Ich würde nicht mehr fahren, Marga«, sagt er mit sehr viel Nachdruck in der Stimme. »Selbst wenn wir den Zug noch erreichen. Es ist Luftalarm angekündigt.« Herr S. beugt sich vor und senkt seine Stimme zu einem Flüstern. »Man bekommt hier Informationen, die nicht jedem zugänglich sind.«
»Aber ich muss doch nach Haus. Mein Kind! Ich könnte es nie bei einem Angriff allein lassen.«
»Es ist bei deiner werten Frau Mama bestens aufgehoben, Marga.«
»Und wo soll ich bleiben?«
»Wir werden schon eine Lösung finden.«
Herr S. schnippt mit dem Finger einen Kellner herbei. »Bitte Champagner«, sagt er, »und könnte ich den Geschäftsführer sprechen?«
Der Geschäftsführer kommt, und beide stecken die Köpfe zusammen. Eigenartig, wie geborgen sie sich in dieser fremden Männerwelt fühlt. Es ist dennoch Leichtsinn gewesen, sich auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben. Aber braucht man nicht ein wenig Leichtsinn in einer schweren Zeit? Sie summt eine Melodie vor sich hin. Elegant tanzt die Kerzenflamme, die sich in ihrem Glas spiegelt, einen Pas de deux. Ist sie etwa beschwipst? Die vielen Gesichter wirken losgelöst von den Körpern. Alle geköpft. Sie muss kichern, aber sie hält sich rechtzeitig die Hand vor den Mund. Ein goldener Schimmer streift dabei ihre Augen. Der Ehering. Würde Edmund es gutheißen, was sie hier tut? Aber sie tut ja gar nichts. Sie ist doch nur einfach da in dieser wohligen Wärme und Geborgenheit. Selbst bei einem Bombenangriff würde der Gewölbekeller Schutz bieten.
Herr S. setzt sich so ungeschickt, dass ein Glas umfällt. Ein länglicher Fleck entsteht auf dem Tischtuch. Er sieht aus wie eine Landkarte, wie Norwegen, findet sie schuldbewusst. Eine Flasche Champagner wird in einem kältebeschlagenen Topf voller Eiswürfel gebracht. Da oben ist strenger Winter jetzt. Tausend Bläschen perlen im Glas, der Schaum fällt mit einem Zischen in sich zusammen. Sie stoßen an. »Es ist alles geregelt«, sagt ihr Gegenüber. »Wir haben Glück gehabt. Es ist noch ein Zimmer frei, das wir haben können.« Sie erschrickt. Ein Zimmer für sie beide? »Keine Angst, liebe Marga«, sagt eine wohlklingende Stimme. »Ich weiß, wie man sich benimmt in einem solchen Fall. Ich gehöre nicht zu den Männern, die Situationen auszunützen pflegen.« Was für eine Situation eigentlich, denkt sie. Alles ist eine Situation schließlich. Das ganze Leben ist eine Situation. Und ist nicht auch dieser Krieg eine Situation? Nein, sie fürchtet sich nicht vor Situationen.
Später folgt sie ihm über einen dicken, roten Läufer, der die Schritte unhörbar macht. Das Zimmer ist einfach, aber geschmackvoll eingerichtet. Eine Kommode mit Waschgarnitur. Ein großer Spiegel. Wandlampen mit Pergamentschirmen. Ein Bett aus rötlicher Kirsche, wie ihr Ehebett. »Ich gehe auf den Flur, während du dich zurechtmachst«, sagt Herr S.
Sie zieht sich hastig aus, das Kostüm, die Strümpfe, die sie vom Bein abrollt, den Strumpfhalter. Unterhemd und Büstenhalter behält sie an. Dann schlüpft sie unter das weiße Federbett. Die Glaskugellampe an der Decke bewegt sich in Kreisen. Sicher hat sie zu viel getrunken. Walter klopft, ehe er eintritt. Welch ein rücksichtsvoller Mann! Sie schließt die Augen und lauscht diesen feinen Geräuschen, die entstehen, wenn ein Mensch sich entkleidet. Dann verlischt die Lampe über ihr, denn obwohl sie die Augen geschlossen hielt, hatte sie noch
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