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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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das Herr S. in zweifacher Ausfertigung mitgebracht hat. »Ich verspreche mir einiges von der Griegsonate«, sagt er mit kultivierter Stimme. »An einigen Stellen soll sie die Wälder förmlich zum Rauschen bringen. Es ist eine sehr germanische Musik mit einem Schuss italienischen Geistes. Wie Prosecco in Met.«
    Ach, Italien ist immer ihre Sehnsucht gewesen. Einmal den Golf von Neapel sehen! Die Italiener sind die einzigen, die in diesen schweren Zeiten zu den Deutschen halten. Herr S. hat eine interessante Art, sich auszudrücken. Sein Schnurrbart läßt ihn leichtsinniger wirken, als er in Wahrheit ist. Eigentlich ist Herr S. schüchtern, findet sie. Allein, wie er seinen Hut auf dem Nebensitz ablegt, verrät ihr, wie empfindsam er unter seiner gesellschaftlichen Gewandtheit ist.
    Dann sitzen sie in der fünften Reihe. Beim Adagio berührt Herr S. sie mit dem rechten Ellbogen. Sie erwidert den Druck ein ganz klein wenig, so, dass es nicht eindeutig als Signal zu verstehen ist. Diese Musikveranstaltungen sind allesamt dadurch etwas Besonderes, dass jeden Augenblick Luftalarm gegeben werden kann. Die atemlose Stille im Publikum, in die sich Geige und Klavier wie in einen besonders klaren Himmel schwingen, ist nichts anderes als das gespannte Warten auf das Einsetzen der Sirene.
    In der Pause trinken sie ein Glas Champagner, das Herr S. zahlt. Sie sieht in einem der Spiegel, dass sie rote Flecken am Hals hat. Dies ist immer so, wenn sie sich aufregt, nicht aus Zorn, sondern auf eine menschenliebende Weise. Herr S. redet indessen über die endlosen Wälder, die das Adagio vor seine inneren Augen gezaubert zu haben scheint. »Es sind die Wälder des Nordens, gnädige Frau. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich war dort, ehe ich verwundet wurde. Es sind Wälder wie gekämmte Teppichfransen, so gleichmäßig, dass man sich nicht vorstellen kann, dass sie irgendwo anfangen oder gar aufhören.«
    Er hat wirklich eine besondere Art, sich auszudrücken, denkt sie. Und wie er das Wort €›verwundet€‹ sagt, so sanft, so heilend. Er hätte auch ein Dichter sein können, ein zweiter Rilke vielleicht.
    Den zweiten Teil des Konzertes bestreitet der Pianist allein. Stücke von Sibelius. Sie schließt die Augen. Es ist, als sei sie gar nicht hier, als schwebe sie zu Hause in einem langen weißen Kleid von Raum zu Raum. Die Musik klingt gedämpft von nebenan. Das gelbe Licht der Kerzen spiegelt sich in den Scheiben ihrer Villa. Herr S. sitzt am Klavier, sie aber stellt sich so, dass sie nur seine Hände sieht. Sie gleiten wie zwei Vögel die Tasten auf und ab. Dann nähert sie sich. Das Klavier klingt nun deutlich und nah. Sie stützt den Ellbogen auf den Flügel und sieht dem Manne zu, wie sich die Gedanken der Musik in seinem Gesicht spiegeln, Ernst und Heiterkeit, Melancholie und Erfüllung. Als sie an einer langsamen Stelle die Augen öffnet, nimmt sie wahr, dass die rechte Hand ihres Begleiters über ihren Knien schwebt. Mit angedeuteten Dirigierbewegungen folgt sie dem An- und Abschwellen der Töne und den Wechseln der Tempi. Dann der lange Applaus, das Flattern zahlloser Händevögel, die zwei Zugaben, diesmal Chopin, Leichtigkeit, Süße.
    Später geht sie an seinem Arm durch die feuchtkalte Stadt. Am Himmel die gespreizten Knochenfinger der Suchscheinwerfer. Herr S. führt sie in ein Kellerlokal. Kleine Nischen, gedämpftes Licht, unhörbare Kellner, dezentes Raunen der Gespräche. Auf der Speisekarte stehen Köstlichkeiten, von denen normale Sterbliche zu Kriegszeiten nur träumen können. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Partei hier verkehrt. Sie versteht nichts von Abzeichen und Uniformen, aber sie wird das Gefühl nicht los, von äußerst wichtigen Persönlichkeiten umgeben zu sein. Herr S. winkt dem Kellner. Ihr Begleiter ist einer der wenigen Zivilisten hier, aber er benimmt sich so souverän, als gehöre er dazu in seinem eleganten Zweireiher, an dessen Revers sie das Parteiabzeichen glitzern sieht. Herr S. scheint gute Beziehungen zu haben. Einige der uniformierten Herren nicken ihm zu, und er grüßt lässig zurück. Sie essen ein Ragoutfin aus der Muschel als Vorspeise und trinken einen trockenen Sherry dazu. Dann gibt es Ochsenbrust in Weißweinsoße. Herr S. dirigiert den Kellner, das Essen, die Getränke. Sie plaudern immer noch über die Musik. Als er sich endlich zurücklehnt und die Zigarre anzündet, bietet er ihr durch die erste blaue Qualmwolke hindurch das Du an. »Marga«, sagt er. »In diesen

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