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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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»Alles«, liest sie, und sie freut sich, dass sie damals dieses Wort unterstrichen hat, »soll vorbereitet sein - und wenn es gilt, Berge zu versetzen. Ob uns das Telegramm, das Deine Ankunft meldet, zur rechten Zeit erreicht, ist ja auch sehr fraglich. Obwohl es herrlich wär für uns beide, Dich am Zug zu erwarten. Aber wie es auch sei - Hauptsache - Du kommst, bist da!«
    »Edmund«, ruft sie, »warum bist du nicht da?« Jetzt, wo sie ihn viel nötiger brauchte als damals, ist er nicht da. Dabei hat er es so viel leichter zu kommen als damals. »Edmund«, ruft sie wieder. Ihre Stimme zittert. »Komm bitte endlich, ich brauche deine Hilfe.« Sie ist froh über das Wort €›Hilfe€‹, denn es lässt sich lauter rufen als alle anderen. Sie wiederholt es ein paarmal. Der ganze Teich gerät dabei in Bewegung, kleine Wellen bilden sich, die über die Seerosenblätter schwappen. Ach, es hat keinen Zweck mit diesem Mann. Er ist einfach zu schwerhörig. Wahrscheinlich sitzt er vor dem Fernseher und hat den Kopfhörer auf. Dabei wäre es ein Leichtes für ihn zu kommen. Es ist kein Krieg wie damals. Es besteht keine Lebensgefahr. Bei dem Teppich im Flur muss er aufpassen. Er rutscht so leicht weg. Aber Gott sei Dank gibt es noch andere Wege und Mittel, ihn herbeizuholen. Sie hat ja den Babysender. Sie braucht nur den Knopf neben der Nachttischlampe zu drücken, und ein Kästchen im Wohnzimmer sendet grelle Blitze aus. Mühsam dreht sie sich auf die Seite, und ihr Arm kriecht wie eine Raupe über das Laken, die Füßchen der Raupe sind vorne, es sind die Finger der Hand, die in den Stoff greifen und den Arm hinter sich herziehen. Dann fühlt sie den Knopf, den kleinen glatten Wulst unter den Fingern. »Wie eine kleine Brust«, denkt sie. »Meine Brüste waren schön.«
    Sie drückt den Knopf und lauscht. Sie hört seine Schritte näher kommen. Erstaunlich, dieser Mann. Seine Gehbehinderung hat er wieder überwunden. Es ist ein junger Schritt. Er klingt wie damals, als er kurz vor Weihnachten aus der Gefangenschaft zurückkam. Er hatte nicht geklingelt, um sie und ihr Kind zu überraschen. Sie hatte seine Schritte im Treppenhaus gehört, und sie war rot geworden, so sehr hatte sie sich gefreut und geschämt. Jetzt geht die Tür auf, und er beugt sich über sie. Sie riecht seinen Atem. Es ist, wie sie es nun seit fünfundfünfzig Jahren kennt. Er hat einen ganz besonderen Geruch. Ein wenig streng, aber nicht unangenehm. Manchmal küsst er sie noch, und dann ist es beinahe wie früher. Sie haben sich viel geküsst, vom ersten Waldspaziergang an. Dieser fremde Geruch und Geschmack waren ihr damals gleich wie sein eigentlicher Name vorgekommen. Er hieß nicht, er roch und schmeckte. »Edmund, kannst du mir noch etwas einschenken? Aber diesmal in die Schnabeltasse bitte. Mein Zittern ist heute stärker als sonst.«
    Er streicht ihr übers Haar und geht davon. Er kommt mit der Rumflasche und einer Schnabeltasse zurück, schenkt ein und drückt sie seiner Frau in die Hand. Er geht und schließt leise die Tür, in Wirklichkeit laut, weil er, wie sie glaubt, nichts hört und weil die Behutsamkeit der Bewegung seine Liebe ausdrücken würde. »Immer muss er die Tür so zuschlagen«, denkt sie. »Kann er nicht Rücksicht nehmen auf mein überempfindliches Gehör?«
    Dann spitzt sie den Mund. Die Lippen bilden einen kleinen Kreis, und der kühle Porzellanschnabel der Tasse dringt ein. Sie schmatzt und saugt wie ein Kind an der Brust und lässt sich aufs Kissen zurücksinken.
    Plötzlich merkt sie, dass die Wurzeln im Schlammbett kräftiger geworden sind. Sie quellen über vor Nährstoffen, und die Seerosenstengel schießen förmlich nach oben. »Nun behüte und beschütze dich der liebe Gott und führe dich gesund in unsre Arme!«, liest sie. Dann, ein wenig tiefer und nach rechts versetzt: »Sei mit aller innigen Liebe geküsst von Deiner Marga.«
    Da gerät die Natur über ihr außer Rand und Band. Eisige Windböen wühlen die Seeoberfläche auf. Die Seerosenblätter werden unter Wasser gedrückt, die Blüten ebenso, schauen plötzlich nach unten, wo sie liegt in ihrem Totenbett, eine verrückte Ophelia, aber sie sieht nichts mehr, weil der Schlamm aufgewirbelt wird. Ihre blicklosen Augen rollen in finsteren Höhlen, ihr zahnloser Mund öffnet und schließt sich, wie konnte sie nur, wie konnte sie nur! Ein Stöhnen kommt aus ihrer eingefallenen Brust. Wie konnte sie nur!
    Dann ist es vorbei. Soll sie auf den Babymelder drücken,

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