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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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Ablehnung des Sohnes zu haben.
    Irgendetwas irritierte mich. Ich sah auf. Neben mir war ein schwarzer Schatten, ausgeschnitten aus dem Weiß der Fassaden, eine Frau in schwarzen Kleidern, ein altes Gesicht, von Runzeln bedeckt, in dem die Augen wie kleine Formen der Zeitlosigkeit wirkten, als ob diese nie gealtert seien.
    Es war die Frau, die sie »die Stumme« nannten. Sie sah mich an, und ich entnahm diesem Blick die Aufforderung, ihr zu folgen. Ich erhob mich, ging in die Bar und zahlte, dann folgte ich ihr. Wir gingen durch die verwinkelte Stadt. Sie sah sich kein einziges Mal um. Ich versuchte gar nicht erst, mir den Weg zu merken, so chaotisch waren die Richtungsänderungen der Gassen in allen drei Dimensionen. Vielleicht sogar auch in einer vierten Dimension, in der der Zeit.
    Schließlich landeten wir vor einer niedrigen, hellgrün gestrichenen Tür. Sie öffnete sie und verschwand. Ich musste mich tief bücken, um ebenfalls in das Haus zu gelangen. Als sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, sah ich, dass ich mich in einem Raum befand, der Küche, Schlafund Wohnzimmer in einem war. Es herrschte Chaos. Unbeschreiblicher Dreck. Gestank nach Essen, altem ֖l, fauligen Tomaten und Knoblauch. Doch am stärksten war der Geruch nach schlecht verbrannter Kohle. Sie lud mich mit einer Handbewegung ein, mich auf einen der beiden wackeligen Stühle zu setzen. Mein Blick fiel auf ein großes Bild an der Wand. Eine Fotografie in einem schwarzen Rahmen. Sie zeigte ein Schiff. Eine weiße, elegante Dampfyacht mit einem enormen Bugspriet, extrem überhängendem Heck, zwei schräg nach hinten stehenden Masten, einem langen Deckshaus und einem ungewöhnlich hohen Schornstein. Der Name am Bug war zu unscharf, um ihn entziffern zu können, aber ich wusste sofort, wie er lautete. Es war Marconis Dampfyacht €›Elettra€‹.
    Plötzlich begann die Alte zu sprechen. Es war eher ein Lallen. Ich musste mein Ohr ihrem Mund nähern, wobei ich den scharfen Knoblauchgestank roch, den sie verströmte.
    Sie schlurfte zu einem Schrank und holte eine Flasche und zwei Gläser heraus. Sie schenkte mir und sich ein, eine goldgelbe Flüssigkeit. Ich trank. Es war Whiskey von einer Qualität, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Mir fiel ein, dass Marconi in erster Ehe mit einer Frau aus der irischen Whiskeydynastie Jameson verheiratet gewesen war. Ich ließ mir die Flasche zeigen. Auf dem Etikett stand tatsächlich dieser Name. Der Whiskey war Jahrgang 1920.
    Eine Weile saßen wir uns am Tisch schweigend gegenüber und tranken. Sie wirkte weder unsicher noch abweisend. Manchmal lächelte sie, und dann kam so etwas wie die Anmut von Mädchenzügen in ihr Gesicht zurück. Ich fragte sie nach Marconi, ob sie ihn gekannt habe. Sie nickte und lächelte wieder. Plötzlich sagte sie mit erstaunlich klarer Stimme: »Carla ist meine Enkelin. Marconi ist ihr Urgroßvater. Sie hat seine Augen.« Sie erhob sich und kramte in der Tiefe des Schrankes. Schließlich holte sie einen Pappkarton heraus. Sie stellte ihn auf den Tisch und öffnete ihn mit zitternden Händen. Ich erblickte eine braune Holzkiste. Man konnte den Deckel hochschlagen. Der Blick fiel auf Drähte, Röhrenkolben, Kondensatoren.
    Sie gab mir den Karton und brachte mich zur Tür. Als ich draußen war, konnte ich mein Glück kaum fassen. Ich war Besitzer eines Radios, das einst Marconi gehört hatte.
 
    Ich ging zum Turm. Carla war zurück. Sie stand an der Staffelei und malte. Es war das Porträt einer jungen Frau. Sie war gerade dabei, es mit Holzkohle anzulegen. Erst dachte ich, es solle ein Selbstporträt werden. Doch Carla, die gerade mit einem sicheren Strich dem Kopf seine ovale Madonnenform gab, erklärte: »Ich male deine Mutter. Es ist ein Experiment, ein imaginäres Porträt. Du musst mir sagen, wie nahe ich der Realität damit komme. So lange bleibe ich hier. Hast du wieder über deine Mutter geschrieben?«
    Ich bejahte.
    »Dann setz dich und lies mir vor. Ich kann sie dann besser vor mir sehen.«
 

 

Kapitel 27
    A m nächsten Tag fahren die beiden Männer zum Supermarkt. Der Vater trägt einen leeren Bierkasten. Er ist doppelt leer, weil ihm eine Flasche fehlt. Zwanzig Pfennig bekommt der Vater weniger für das Leergut. Er sieht verstört aus, hat einen verblüfften Gesichtsausdruck, wie jemand, der Zeuge eines Weltunterganges geworden ist, der ihn seltsamerweise unbehelligt ließ. »Ein Komiker, dem der Humor vergangen ist, sieht so aus«, denkt der Sohn und

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