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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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einen rötlichen Schimmer gesehen. Die Matratze neben ihr gibt nach. Das Bett knarrt. Aus der Finsternis dringt seine Stimme. »Ich wünsche dir eine angenehme Nachtruhe, Marga.«
    Sie kann unmöglich gleich einschlafen. Es ist doch sehr seltsam, neben einem fremden Menschen zu liegen, der einem dennoch bereits ein wenig vertraut ist. Sie versucht, in seinen Atemzügen zu lesen wie in einem Buch. Schläft er bereits? Ihr ist übel, und die Dunkelheit dreht sich wie ein schwarzes Karussell. Dann schläft sie ein. Sie träumt von einer gepflegten Hand, wie sie dirigiert, wie sie spielt, über die Tasten fliegt und schließlich auf ihr landet, mit einem Ring in den Fingern.
    Als sie am Morgen erwacht, sieht sie ein fremdes Bein über ihrer Bettdecke liegen. Er schnarcht. Schnell schlüpft sie aus dem Bett und zieht sich an. Nun schämt sie sich. Sie hat Kopfschmerzen. Eigentlich ist nichts Schlimmes geschehen. Aber recht ist es doch nicht. Das graue Morgenlicht staut sich hinter den Vorhängen. Sie greift nach ihrem Mantel und schleicht zum Zimmer hinaus. Dem Portier sagt sie, dass sie leider nicht zum Frühstück bleiben könne. Sie habe eine dringende Verabredung. Dann läuft sie durch die kalte Novemberluft zum Bahnhof. Der Zug ist wie immer hoffnungslos überfüllt. Sie muss auf dem Perron stehen und erbärmlich frieren. Als sie ihr Kind abholt, trifft sie der strafende Blick ihrer Mutter. »Ich wusste von höchster Stelle, dass ein Angriff zu erwarten war«, sagt die Tochter. »Da habe ich mir ein Zimmer genommen.«
    Sie legt sich noch einmal schlafen mit ihrem kleinen Sohn, im Ehebett aus rötlicher Kirsche, in dem sie auch jetzt noch liegt. Sie schläft lange und fest bis in den Nachmittag hinein. Dann schreibt sie den Brief auf lavendelfarbenem Papier, mit grüner Tinte. Nun ist er endlich angekommen. Sie sieht ihn von unten, wie er in der Seerosenblüte schaukelt. Nur sie versteht ihn zu lesen. Denn sie hat ihn in Wahrheit an sich geschrieben.
    Sie drückt auf den Babysender und lauscht. Schritte kommen näher. Ohne anzuklopfen tritt er ein. Nein, solche feinen Manieren wie Walter hat er nicht. »Kannst du mir noch ein wenig nachschenken«, sagt sie und hält ihm mit zitternden Händen die Schnabeltasse entgegen. »Ich habe lange an früher gedacht, was für schwere Zeiten wir damals hatten und wie glücklich wir dabei doch waren.«
 

 

Kapitel 26
    A ls ich wieder einmal Luigi traf, behauptete er, er habe gehört, dass man Carla in der Oberstadt gesehen habe. Ich ging auf der Suche nach ihr durch das Gassenlabyrinth. Ich fand den kleinen Platz, auf dem ich damals mit Luigi gelandet war. Er war leer. Aus der Bar €›Zum verlorenen Anker€‹ drang laute Musik. Sie klang nach arabischem Hiphop. Ich hatte Marconis Biographie dabei. Ich setzte mich an einen der leeren Tische und begann zu lesen. Man musste mich bemerkt haben, denn ein dunkelhäutiges Mädchen erschien und fragte mich, was ich trinken wolle. Einen halben Liter Rotwein, sagte ich. Dann las ich weiter, mit wachsender Faszination übrigens.
    Üœber dem Meer, dessen Horizont man von meinem Platz überblicken konnte, sammelte sich eine riesige Wolke, die sich langsam heranschob. Sie drang in die Gassen der Stadt ein wie weißer Qualm. Plötzlich herrschte dicker Nebel. Man sah die Hand nicht mehr vor Augen. Doch so schnell, wie er gekommen war, so schnell lichtete sich der Nebel wieder. Ein kühler Wind trieb die Schwaden vor sich her. Dann war da wieder das Meer in geradezu unnatürlichem Blau. Carla hatte Recht, es war Ultramarinblau, und zwar das echte, das aus geriebenem Lapislazuli besteht und das heute kaum mehr zu bekommen ist. Carla hatte mir erzählt, dass dieses Blau beständig seinen Ton verändert je nach einfallendem Licht und dass es daher nicht reproduzierbar ist. Drucke, Farbfotos können es nicht wiedergeben. All das traf auch auf die Farbe des Meeres zu.
    Ich versuchte, weiter in Marconis Biographie zu lesen. Er hatte einen harten Vater gehabt, der nicht viel von seinem Sohn hielt. Ein typischer italienischer Großgrundbesitzer. Wein und Frauen waren sein Hauptinteresse. Diese Vorlieben hatte der Sohn offenbar von seinem Vater geerbt. Doch Guglielmos Leidenschaft für Radiowellen war dem Vater fremd. Er wollte, dass sein Sohn sein Gut weiterführte. Die Dickköpfigkeit, mit der der Junge seine Obsession verfolgte und schließlich damit sogar kommerziell erfolgreich war, schien ihre Wurzeln im Starrsinn des Vaters und dessen

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