Der Strandlaeufer
blickt dabei zu Boden. Er hat Schuldgefühle.
Am Nachmittag geht der Sohn auf sein Zimmer und holt die leere Flasche aus dem Eckschrank. Er verbirgt sie seitlich am Körper, als er die Treppe hinuntergeht, denn der Vater ist wie zufällig im Flur. Dann stellt er sie auf dem Kühlschrank ab. Anschließend geht er ins Wohnzimmer, setzt sich in den Ohrenstuhl, in dem seine Mutter seit zwei Jahren nicht mehr sitzt, greift zur Fernbedienung und schaltet den Fernseher ein. Er sieht einen Tierfilm, während der Mann seine Frau säubert und ihr neue Windeln anlegt.
In der Nacht erwacht sie. Es ist stockfinster, aber für sie ist es hell. Es ist sogar heller als am Tag. Eine wunderbare Sommerhelle erfüllt den Raum. Sie hört die Stimme des Mannes, der neben ihr schläft. Sie hört, wie die Stimme ihren Kosenamen sagt, während sie sich schmal macht und sich schnell durch ein Gebüsch windet, so dass die Zweige hinter ihr zusammenschlagen und sie unsichtbar für ihn wird. »Wo bist du, mein Reh, wo bist du!«, ruft die Stimme. Immer wieder. Sie steht ganz still und hält den Atem an. So genießt sie das wundervolle Gefühl, gesucht zu werden. Sie möchte ihr Leben lang gesucht werden.
Jetzt atmet sie durch den offenen Mund, damit er nichts hört. Ihre Brust hebt und senkt sich. Sie hat eine schöne Büste, das weiß sie. Sie braucht keinen Büstenhalter. Sonnenflecken zittern auf ihrem Kattunkleid, ihren Armen mit den weißen Kratzern von der Brombeerhecke. Jetzt hört sie seine Stimme ferner. Er ist ein Tölpel, warum findet er sie nicht. »Kalt!«, ruft sie. »Noch kälter!« Sie hört sich lachen und stellt sich sein Gesicht vor, wie er sich freut. »Wärmer!«, ruft sie. »Immer wärmer!« »Kätzchen«, flüstert es ganz nahe. Es raschelt, Zweige teilen sich, braune, kräftige Männerhände. Wie flinke Eichhörnchen huschen sie durch das Laub. Dann sein dunkles, gewelltes Haar, seine meergrünen Augen, in denen die Sonne winzig und schwarz ist, sein Möwenflügelmund. »Kätzchen, mein Kätzchen«, sagt er und schließt sie in die Arme. Der Träger ihres Kleides verrutscht. Eine Brust wird sichtbar. Er beugt sich hinab, vorsichtig und wie voller Ehrfurcht, und küsst sie dort sanft. Sie spürt es bis zu den Zehen hinab und an die Kopfhaut hinauf. Sie greift mit der Hand in sein dichtes Haar und drückt seinen Kopf tiefer. Alles duftet nach Moos und frischem Holz. Mit geschlossenen Augen sagt sie, nur für sich hörbar: »Glück. So hab ich dich mir vorgestellt.« Langsam schwindet die Sommerhelle, als ob es Abend würde. Dann ist es stockfinster um sie, und sie begreift, dass es Nacht ist und dass ihr Mann sie gefunden hat.
Zur selben Zeit kann der Sohn nicht schlafen. Auch er starrt zur Decke, aber er sieht dort nichts anderes als einen winzigen, dunklen Fleck. Es ist eine Fliege, die mit den Beinen nach oben schläft. Er hat Magenschmerzen. Also steht er auf und schleicht die Treppe hinunter, an der Tür des elterlichen Schlafzimmers vorbei, hinter der er seinen Vater schnarchen hört, in den Keller hinab, wo zwischen leeren Marmeladengläsern eine Flasche Aquavit steht. Sie ist noch ungeöffnet. Er holt die Flasche aus der Papphülle und bricht mit einem Ruck den Schraubverschluss los. Dann setzt er sie an und trinkt zwei tiefe Schlucke. Das scharfe Getränk brennt den Schmerz im Magen weg. Er trinkt noch einen Schluck. Die Flasche stellt er neben die Hülle ins Regal. Denn er will seine Untat diesmal nicht verbergen. Dann nimmt er drei Bierflaschen aus dem neuen Kasten und schleicht ins Wohnzimmer hoch. Er stellt den Fernseher an und starrt bis weit nach Mitternacht auf Bilder, die ihn nicht interessieren. Den Ton hat er abgestellt, denn er weiß, dass die Mutter ein feines Gehör hat. Er sitzt in ihrem Ohrenstuhl, und er ist sich nicht sicher, ob dieser Ohrenstuhl mit seinen gepolsterten Ohren nicht jedes Geräusch im Raum an die Mutter verrät.
Am Morgen geht der Sohn in die Küche und macht sich sein Frühstück. Wie immer um diese Zeit ist der Vater damit beschäftigt, seine Frau sauber zu machen. Er geht durch den Flur mit einem Stoß Windeln. Es riecht durchdringend nach Urin und Fäkalien. Der Sohn fragt, ob er sich ein Ei machen dürfe. Der Vater bleibt stehen und sieht ihn an. Der Sohn hat noch nie so viel Verachtung in einem Blick gesehen. Es ist eine graue, kalte Verachtung in Form von zwei Greisenaugen.
»Wenn du nur auch so fragen würdest, wenn du meinen Schnaps trinkst«, sagt der Vater. Jetzt
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