Der Strandlaeufer
diese einzige Funkstation zur Außenwelt? Schade, dass sie den Sohn nicht erreichen kann damit. Er sollte sich einen guten Empfänger anschaffen. Gibt es nicht Funkgeräte, mit denen man um die ganze Welt telegraphieren kann? Ist der Sohn nicht überhaupt da? Draußen im Garten, der ihr wie ein Traum erscheint inzwischen, weil seine Umrisse im Spiegel des Teiches zittern? Nein, nur den Mann jetzt nicht sehn. Ihn, der ahnungslos drüben im Wohnzimmer sitzt und vor sich hinstarrt, wie es nur Greise vermögen: mit einer todesängstlichen Ruhe. Und ihren Sohn auch nicht, der sich so schlecht hält.
Ihre Gedanken schwimmen nicht mehr oben. Sie sind herabgesunken und liegen jetzt auf ihr und reden sie an. Überall hört sie sie um sich herum. Am schlimmsten sind die Gedanken, die in der Nähe der Ohren gelandet sind. Überlaut sind sie. Sie brüllen in einem fort: »Wie konntest Du dummes Ding nur diesen Brief so beenden, so unterschreiben! Nach sechs Jahren Glück und Liebe zum ersten Mal dein offizieller Name und nicht dieses Kosewort, das dir dein Mann verlieh und mit dem du seit sechs Jahren alle Briefe unterschriebst.« »Dein Reh«, »Dein Rehlein«, »Dein dich liebendes Reh«. Jetzt aber »Sei mit aller innigen Liebe geküsst von deiner Marga«. Eine Katastrophe, die sie damals beim Überlesen des Briefes glücklicherweise noch bemerkt hatte. Deshalb hatte sie ein dickes ›m‹ über das ›r‹ von ›deiner‹ gemalt. Dann das Wort ›Reh‹ unter das mit drei kräftigen Strichen getilgte Wort ›Marga‹. Warum drunter? Vielleicht war es ein Signal des Schuldgefühls. Ganz an den unteren Rand schrieb sie später, ehe sie den Brief kuvertierte, folgenden Satz in Klammern: »wie kann ich wohl auf ›Marga‹«. Auch ihn überlas sie noch einmal und entdeckte den Fehler. Sie korrigierte ihn: ›kann‹ in ›kam‹. Drei Fehler waren es also, drei verräterische Fehler. Das vergessene ›Dir‹, der Name Marga und dieser Schreibfehler, der das Bild eines Mannes enthält, der auf ihr liegt. Ihr Mann aber hat nie bemerkt, was hier Grauenhaftes verschlüsselt war. Er saß in der Offiziersbaracke in der Nähe des Kanonenofens, riss voller Vorfreude das Kuvert auf und trank die Botschaft der Geliebten mit seinen Augen und seinem Herzen.
Jetzt verübelt sie es ihm sogar, dass er so stumpfsinnig vertrauensselig war. Bis heute hat sich das nicht geändert. Hätte er nicht sensibel sein müssen dafür, wie es den armen verlassenen Frauen in der Heimat erging? Die ständige Angst um den Mann in der Ferne. Eine Angst, die einem den Atem nahm, die einen matt und elend machen konnte. War es wirklich eine Sünde, dass sie sich ein kleines Vergnügen gönnte? Einmal ausspannen können bei Musik. Bei nordischer Musik übrigens, Grieg. War er nicht Norweger, und brachten die Töne dieser Sonate, Geige und Klavier, sie nicht auf Flügeln ihrem Manne näher, der so weit oben in Kirkenes an der Front kämpfte?
Ermattet liegt sie da und wartet, dass die Stoffe, die aufgewirbelt das Teichwasser trüben, langsam auf sie herniedersinken, bis es wieder klarer um sie wird. Endlich ist es so weit. Sie ist schwach. Darum lässt sie nur einen Seerosengedanken aus sich wachsen. Es dauert lange, bis er die Wasseroberfläche erreicht. Und es dauert beinahe ebenso lange, bis sich die Blüte öffnet, in der dieses eine wunderbare Geschehen schaukelt.
Herr S., den sie vom Tennisspiel kannte, hat sie abgeholt, ganz wie es sich für einen Kavalier gehört. Es ist ein Novembertag, grau, feldgrau der Himmel. Sie hat den ganzen Nachmittag über Radio gehört. Es ist zwar streng verboten, die Todesstrafe steht sogar darauf, doch sie muss schließlich wissen, ob Feindanflüge zu erwarten sind, schon allein um des Kindes willen.
Dann hat sie den Sohn zur Großmutter gebracht. Seiner Großmutter, die ihre Mutter ist, aber Letzteres hat mit Ersterem nichts zu tun. Eine böse Mutter kann eine gute Großmutter sein. Ihre eigene Großmutter ist tot, nachdem sie sich mit achtundneunzig beim Walzertanzen das Bein gebrochen hatte.
Herr S. aber steht wie telefonisch verabredet um Punkt sechs Uhr vor der Tür und küsst ihre Hand, als sie reisefertig auf der Türschwelle steht. »Kein Wetter für Bomber, gnädige Frau«, sagt er und deutet wie ein Vogelkundler zur tiefhängenden grauen Wolkendecke.
Sie fahren Erster Klasse, sitzen die kurze Strecke einander gegenüber in den Polstersesseln und studieren das Programm,
Weitere Kostenlose Bücher