Der Strandlaeufer
zu reinigen.
Buchstaben und Zahlen kamen zum Vorschein. Es war eine Senderöhre. Das erklärte im Übrigen auch ihre ungewöhnliche Größe von 20 Zentimetern Höhe. Ich überprüfte ihre Heizung. Sie war noch intakt. Es war eine Triode der AEG mit fünf Watt Leistung.
Ich baute einen primitiven Sender, einen abstimmbaren Schwingkreis, der mit Hilfe einer Kopplungsspule auf das Gitter der Röhre wirkte und auch das Kohle-Mikrophon enthielt, das ich aus dem alten Telefonhörer ausbaute, den Luigi gefunden und den er mir nach einigem Zureden überlassen hatte. Dann spannte ich mit Carlas Hilfe einige lange Drähte vom Turm zu den Klippen. Es war eine sogenannte Harfenantenne, wie sie vermutlich auch Marconi benutzt hatte. Von dort, wo die Drähte sich auf der Plattform trafen, zog ich einen isolierten Draht ins Innere des Turms zum Sender. Als alles fertig war, schickte ich Carla mit Marconis Radio nach Hause. Sie rief mich mit dem Handy an, als sie den Empfänger eingeschaltet hatte. Ich schaltete den Sender ein, nahm das Mikrophon und sagte: »Vieni oggi alla torre.« Ich hörte sie übers Handy lachen. Dann sagte sie: »O. K., mein kleiner Marconi. Ich komme.«
Eine Stunde später war sie da. Sie bestand darauf, sofort mit mir ins Bett zu gehen. »So hat es Marconi bestimmt auch gemacht«, sagte sie. »Ja«, sagte ich. »Das glaube ich allerdings auch.«
Kapitel 29
E ine kurze, verworrene, in lauter einzelne Stunden zerfaserte Woche später betrinkt sich der Sohn eines Nachts mit Freunden in einem Lokal, weil er spürt, dass es nun geschieht. Als er gegen Morgen nach Hause kommt, erhält er einen Anruf. »Deine Mutter ist heute Nacht gestorben«, sagt die Stimme. Es ist nicht die Stimme des Vaters, der ihn nicht erreicht hat in der Nacht. Es ist eine Stimme aus alten Zeiten, die er sehr mag. Eine Frauenstimme. Ihr Wohlklang verhindert, dass der Sohn ganz begreift, was geschehen ist. Erst als er den Hörer aufgelegt hat, kommt es. Es ist wie mit einem Gegenstand, den man erkennt, obwohl man ihn noch nie gesehen hat. Etwas unendlich fremd Vertrautes, hart und doch lebendig, von der Art einer Versteinerung, so wie man einen Fußabdruck wahrnimmt, die nun erstarrten Spuren einst pulsierenden Lebens.
Der Sohn sitzt da im Sessel, starrt das Telefon an, dessen Hörer dabei ist, die Wärme seiner Hand zu verlieren, und wartet auf etwas. Er wartet, dass sich ein Gefühl der Trauer in ihm entwickelt, ein Schmerz, ein Weinen, ein heftiges Schluchzen, doch nichts geschieht. Es ist so ruhig in ihm wie gewöhnlich nur in seltenen, entspannten Momenten, wie sie sich zum Beispiel manchmal an Sommermorgen beim Lesen einer Zeitung einstellen. Er schämt sich dieser Ruhe. Sie macht es ihm schwer, das Nötige zu tun, nämlich seinen Vater anzurufen. Er glaubt, seine abgrundtiefe Gelassenheit komme daher, dass er anästhesiert ist von der Tatsache, selbst zu einem Teil gestorben zu sein. Ein Toter aber kann kein Mitleid empfinden, weder mit sich noch mit denen, die er verlassen hat.
Schließlich geht dieser Zustand zu Ende. Während er die Nummer des Vaters wählt, spürt er, dass er immer noch betrunken ist. Er artikuliert unsauber, als er spricht, und er hofft, dass der Vater es für eine Folge seelischer Erschütterung hält. Die Stimme am anderen Ende der Leitung ist gepresst. Jedes Wort ist in sich hineingestülpt wie ein Strumpf, den man zu hastig ausgezogen hat. Der Sohn fragt, wie es geschehen ist. Er fragt wie ein Buchhalter der Realität, weil er keine anderen passenden Worte findet. Er spürt den Kloß im Hals, diesen Staudamm vor einem Tränensee. Und er spürt den gleichen gestauten See am anderen Ende der Leitung.
Der Vater erzählt. Er erzählt teils stumm, teils mit Pausen, teils mit Worten, die wie Gräten im Hals stecken bleiben. Er berichtet, dass seine Frau morgens einen Gehirnkrampf hatte. So nannte es wenigstens der Arzt. »Aber es war wohl ein Schlaganfall. Sie hat kein Frühstück nehmen wollen. Dann hat sie ein wenig erbrochen. Deine Mutter war seitdem nicht mehr bei sich, wir haben sie auf die Seite gelegt, damit sie nicht an Erbrochenem erstickt.«
Der Vater erzählt, dass er den ganzen Tag und bis in die Nacht hinein am Bett seiner Frau gesessen habe. Er habe auf ihren Atem gelauscht. Auf dieses ganz allmählich schwächer und langsamer werdende Geräusch ihres Atems. Er habe sie wieder und wieder gestreichelt, ihren Namen geflüstert, Reh,
Rehlein. Er habe sie schließlich in den Arm
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