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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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weiß der Sohn, dass die gleiche kalte, graue Verachtung auch die Form von Wörtern annehmen kann. »Ich habe Magenschmerzen gehabt«, stammelt er.
    »Bist du Alkoholiker?«, fragt der Vater. Er sagt es mit einer Stimme, die keine Fragen stellt, sondern Antworten gibt. Der Sohn schweigt und senkt den Kopf.
    »Ja!«, will er schreien, »ich bin Alkoholiker. Wegen euch bin ich Alkoholiker. Bei solchen Eltern ist man immer Alkoholiker! «
    Aber kein Laut kommt über seine Lippen. »Du lebst ohne Rücksicht auf andere«, stößt der Vater hervor. »Drei leere Bierflaschen hast du auf dem Tisch stehen lassen. Ich habe sie in den Keller tragen müssen. Den Fernseher hast du laufen lassen. Die Wohnzimmertür hast du offen stehen lassen. Türen sind zum Zumachen da.«
    Nun hält es den Sohn nicht mehr. »Du bist ein kleinlicher Mensch«, brüllt er. »Ein Alltagsfaschist.«
    Dieses Wort kreiselt einen Moment in der Luft, ehe es zu Boden sinkt und als ein hässlicher Fleck auf dem Teppich liegen bleibt.
    Sie brüllen sich an. »In eurer Wohnung lebt doch niemand mehr!«, schreit der Sohn. Blanker Hass, dumpfe Verzweiflung und verzerrte Liebe sind in seiner Stimme und in der des Vaters ebenso. Sie heben sogar die Faust gegeneinander. Der Vater hat die schmutzigen Windeln fallen lassen. »Du bist dein ganzes Leben ein Egoist gewesen. Du warst nie zu Kompromissen fähig. Das zeigen schon deine gescheiterten Ehen!«
    »Deine Ehe ist so gescheitert, dass sie nie scheitern konnte«, schreit der Sohn.
    »Ich will nicht, dass du unsere Wohnatmosphäre zerstörst, indem du alles herumliegen lässt«, sagt der Vater. Er sagt es diesmal ruhig, aber das ist beinahe noch schlimmer.
    Der Sohn ist immer noch aufgebracht. Er spürt, wie seine Lippen sich zu einem Eisenring zusammenziehen, als er sagt: »Ihr lebt ja doch nur im Schlafzimmer. Außerhalb davon lebt ihr schon längst nicht mehr.«
    Er bemerkt am Blick des Vaters, dass dies schlimmer war als alles vorher Gesagte. Auch der Vater will schreien, aber die Stimme gerät ihm merkwürdig leise. Es ist, als ob sich das Gebrüll selbst erstickt. »Dann schließ ich mich bei deiner Mutter ein, bis du weg bist!«
    Brüsk wendet sich der Vater ab und geht in den Garten. Die stinkenden Windeln sind auf dem Perserteppich liegen geblieben. Der Sohn geht ins Wohnzimmer, setzt sich in den Ohrensessel und schaltet den Fernseher ein. Die Magenschmerzen sind verflogen. Zum erstenmal, seitdem er hier ist, fühlt er sich körperlich gut. Draußen hinter den großen Scheiben sieht er seinen Vater im Garten auf und ab gehen mit einem kleinen, weißen Gesicht wie eine Maske aus Pappmachee.
 
    Am folgenden Morgen fährt der Sohn ab. Er hat sich beim Frühstück ganz normal mit dem Vater unterhalten. Beide vermeiden es, etwas von dem Streit zu erwähnen. Als der Sohn ins Schlafzimmer geht, weiß er, dass er seine Mutter zum letzten Mal in ihrem und seinem Leben sehen wird. Er weiß es so sicher, wie man niemals einen Gedanken wissen kann, sondern nur ein Stück Wirklichkeit, dessen Teil man ist.
    Er beugt sich über die Frau und küsst sie auf die Stirn. Eine kleine, feuchte, kühle Wölbung, die er mit den Lippen berührt, die Stirn eines Totenschädels, aus dem zwei kleine, braune Augen herausschimmern wie niederbrennende Kerzenstümpfchen. Die Mutter öffnet einen zahnlosen Totenmund, und der Sohn sieht ihre Zunge. Er fürchtet, dass sie auf den Krach mit dem Vater zu sprechen kommt, den sie mitgehört haben muss. Aber sie sagt nur: »Hoffentlich sehen wir uns wieder.«
    Sie sagt diesen furchtbaren, menschenunwürdigen Satz mit einer brüchigen, hohen Kinderstimme. Der Sohn greift nach der Hand seiner Mutter. Es sind Vogelknochen, dünn und hohl, wie zum Fliegen geschaffen. Das Zittern der Hand seiner Mutter überträgt sich auf seine Hand. Ein kleines, ewiges, unerbittliches Händeschütteln.
    »Wir sehen uns bestimmt wieder«, sagt er, wohl wissend, dass dieser Satz herbeigelogen ist, nicht um die Mutter, sondern um ihn zu trösten. Denn er kann es nicht fassen, was er in diesem Moment begreift: Er wird diese Frau nie wiedersehen, die Person, die er als Mensch nicht mag. Aber sie ist kein Mensch, sie ist seine Mutter. Denn dieses ist die fürchterliche Wahrheit: Die Mutter nie wiedersehen bedeutet, einen Teil von sich selbst nie wiedersehen. Es ist der Teil, aus dem er gekommen ist und zu dem er nun nie wieder zurückkehren kann. Die Tür wird für alle Zeit zugeschlagen sein. Und es wird kalt im

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