Der Strandlaeufer
Freien werden. Noch kälter, als es jetzt schon ist.
Er versucht sich auf den letzten Blick zu konzentrieren, mit dem er sie umfassen will. Es geht nicht. Er sieht nur alles darum herum ganz genau: die Maserung der Bettwand, die übermalten Splitter der Raufasertapete, die Stöße frischer Windeln, die emaillierte Bettpfanne, den verchromten Rollstuhl mit dem Topf in der Sitzfläche, in dem jetzt beim gemeinsamen Teetrinken immer der Vater sitzt. Er sieht auch die Nachttischlampe aus den fünfziger Jahren mit dem von der Hitze gebräunten Pergamentschirm, vor der er sich immer schämt, als ob sie bis heute all die Heimlichkeiten seines damaligen Tuns beleuchtet. Den Kopf seiner Mutter sieht er nicht, jedenfalls nicht genau. Er verfließt unter seinem Blick zu einem konturenlosen Nebel. Doch da verzieht sich ihr ganzes, geschrumpftes Sterbegesicht plötzlich. Eine kleine, bläuliche Zunge erscheint und rutscht schräg nach oben aus ihrem Mund. Es ist eine Katzenzunge. Die Augen schließen sich, die Stirn kräuselt sich leicht wie unter einer Bö. Seine Mutter gähnt. Es ist ein Kindergähnen, ein Gähnen ohne jeden Versuch, es zu verbergen, ein Gähnen, wie man es im Laufe seines Lebens verlernt. Keine vor den Mund gehaltene Hand, kein Kommentar, kein verlegenes Lächeln. Katzen können so gähnen. Sie gehen dann ganz und gar in ihrem Gähnen auf, von der Schwanz- bis zur Zungenspitze. Es ist, als ob sich ein archetypisches Schlafbedürfnis seinen leiblichen Ausdruck sucht. Als er geht, weiß der Sohn, dass er für den Rest seines Lebens dieses unretuschierbare Bild von seiner Mutter in sich behalten wird.
Kapitel 28
B ald darauf schon war das Bild, das Carla von meiner Mutter malte, ziemlich weit fortgeschritten. Die Farben waren angelegt, nur das Gesicht war leer, ein weißer Fleck.
»Du hast ihre Silhouette wirklich getroffen«, sagte ich. »Sie hatte wirklich diese schmalen Schultern und diesen langen Hals, auf den sie, soweit ich mich erinnere, ziemlich stolz war. Sie trug, um dieses Körpermerkmal zu betonen, häufig Halsketten. Mal bitte nicht zu schnell, damit ihr mir noch lange erhalten bleibt.«
Sie umarmte mich und brach dabei in Tränen aus. »Vergiss, was ich gesagt habe. Ich war nicht nett zu dir, mein Armer«, sagte sie. »Ich habe noch einmal gelesen, was du über deine Mutter geschrieben hast. Du bist ihr wirklich sehr nahe gekommen. Sie hätte ihr Ziel, Malerin zu werden, nicht aufgeben dürfen. Sie hatte doch eine gute Ausbildung, und zudem noch bei einem der besten Maler überhaupt.«
»Sie konnte zwar malen, aber sie hatte keine Ahnung von Kunst.«
»Ich weiß, was du meinst. Zu einem guten Bild gehört dreierlei: Technik, ein stilistisches Konzept und eine intuitive Ahnung von dem, was ein Bild zu einem Kunstwerk macht.«
»Genauso ist es. Übrigens auch beim Schreiben. Die Technik ist am wenigsten wichtig, der Stil schon mehr, das dritte aber ist entscheidend. Was es ist, weiß niemand. Luigi meint, es habe etwas mit der genialen Gedankenlosigkeit des Meeres zu tun. Ohne dass er es weiß, ist er so etwas wie ein Kantianer. Auch Kinder haben manchmal diese Form der kreativen Ahnungslosigkeit, deshalb können sie eine kurze Zeit ihres Lebens gute Bilder malen, ehe man ihnen zu viel beigebracht hat.«
»Habe ich dir schon gesagt, dass sie auch im Turm filmen wollen? Ich habe ihnen erzählt, dass Marconi in diesem Gemäuer war. Sie haben vor, einen Film über sein Leben zu drehen. «
»Wahrscheinlich einen Actionfilm. Marconi als Retter der Überlebenden der Titanic-Katastrophe. Marconi als Frauenheld. Marconi als genialer Geschäftsmann. Die Kabelgesellschaften wollen ihn umbringen lassen. Die Mafia schützt ihn. Franco ist sein Gönner, DAnnunzio sein Freund. Ich weiß schon einen Titel: Freibeuter der Wellen.«
»Ich möchte mehr über seine Arbeit wissen. Kannst du mir nicht erklären, wie diese Geräte funktionieren, an denen du ständig herumbastelst?«
Es begann eine schöne Zeit für mich. Ich baute einfache Schwingkreise und erklärte sie Carla. Ich machte ihr klar, wie eine Radioröhre funktioniert. Ich probierte Marconis Radio aus. Es ging noch immer. Bei einem meiner Versuche, mich als Strandläufer zu betätigen, hatte ich eine Radioröhre im Sand gefunden. Der ungewöhnlichen Größe und Fassung nach musste sie sehr alt sein. Der Glaskolben war mit Seepocken bedeckt, die Typenbezeichnung nicht mehr lesbar. Mit größter Behutsamkeit begann ich die Röhre
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