Der Streik
schäbiger wirkte, und einen kleinen Hut mit Plüschblumen, den sie trotzig auf ihre widerspenstigen Locken gesetzt hatte. Merkwürdigerweise ließ ihre stolze Haltung die Kleidung reizvoll aussehen; sie unterstrich, wie gut ihr selbst diese Sachen standen.
„Möchten Sie mit zu mir kommen und einen Drink nehmen?“, fragte er.
Sie nickte still, ernst, als traute sie sich nicht zu, die richtigen Worte für eine Zusage zu finden. Dann sagte sie, ohne ihn anzusehen, als spräche sie zu sich selbst: „Sie wollten heute Abend niemanden sehen, aber Sie wollen mich sehen. …“ Es war der feierlichste, stolzeste Tonfall, den er jemals in der Stimme eines Menschen vernommen hatte.
Still saß sie neben ihm im Taxi und sah hinauf zu den Wolkenkratzern, an denen sie vorbeifuhren. Nach einer Weile sagte sie: „Ich habe gehört, dass solche Sachen in New York passieren können, aber ich hätte nie gedacht, dass sie mir passieren.“
„Woher kommen Sie?“
„Aus Buffalo.“
„Haben Sie Familie?“
Sie zögerte. „Ich denke schon. In Buffalo.“
„Was meinen Sie mit ‚Ich denke schon‘?“
„Ich habe sie verlassen.“
„Warum?“
„Ich dachte, wenn ich es jemals zu etwas bringen will, muss ich von ihnen weg, und zwar ganz.“
„Wieso? Was ist passiert?“
„Nichts ist passiert. Und nichts wäre jemals passiert. Das war es, was ich nicht aushielt.“
„Wie meinen Sie das?“
„Na ja, sie … wahrscheinlich sollte ich Ihnen die Wahrheit erzählen, Mr. Taggart. Mein Vater war nie zu etwas nutze, und Mama war das egal, und ich hatte genug davon, immer die Einzige von uns sieben zu sein, die eine Arbeit hatte, alle anderen hatten immer irgendwie Pech. Ich dachte, wenn ich nicht wegginge, würde es mich auch erwischen – ich würde herunterkommen wie alle anderen. Also habe ich eines Tages eine Zugkarte gekauft und bin weg. Ich habe mich nicht einmal verabschiedet. Sie haben nicht gewusst, dass ich gehen würde.“ Überrascht lachte sie kurz auf, ihr war plötzlich ein Gedanke gekommen: „Mr. Taggart“, sagte sie, „es war ein Taggart-Zug.“
„Wann sind Sie hergekommen?“
„Vor sechs Monaten“
„Und Sie sind ganz allein?“
„Ja“, sagte sie fröhlich.
„Was wollten Sie hier tun?“
„Ich wollte etwas aus mir machen, etwas erreichen.“
„In welchem Bereich?“
„Ach, ich weiß nicht, aber … aber die Menschen tun so vieles in der Welt. Ich sah Bilder von New York, und ich dachte“ – sie deutete auf die riesenhaften Gebäude jenseits der Regenstreifen auf dem Taxifenster – „ich dachte, jemand hat diese Gebäude errichtet, er hat nicht bloß herumgesessen und gejammert, dass die Küche eklig ist und das Dach undicht und die Leitungen verstopft und dass es eine schlechte Welt ist und … Mr. Taggart“ – schaudernd drehte sie ihren Kopf zu ihm um und sah ihm gerade in die Augen – „wir waren elendsarm, und es war uns egal. Das war es, was ich nicht aushalten konnte … dass es ihnen egal war. So egal, dass sie keinen Finger rührten. So egal, dass sie nicht einmal den Mülleimer ausleerten. Und die Nachbarin sagte, es sei meine Pflicht, ihnen zu helfen, und es sei unerheblich, was aus mir oder ihr oder irgendjemandem würde, denn was könnte ein Mensch überhaupt ändern?“ Hinter dem hellen Blick sah er in ihren Augen etwas Verletztes und Hartes. „Ich möchte nicht über sie sprechen“, sagte sie, „nicht mit Ihnen. Das hier, dass ich Sie getroffen habe, ich meine … das ist es, was sie niemals haben könnten. Und ich werde es auch niemals mit ihnen teilen. Es gehört mir, nicht ihnen.“
„Wie alt sind Sie?“, fragte er.
„Neunzehn.“
Als er sie im Licht seines Wohnzimmers ansah, dachte er, dass sie eine gute Figur hätte, wenn sie nur ein bisschen essen würde; sie erschien zu dünn für ihre Größe und ihren Knochenbau. Sie trug ein enges, abgetragenes schwarzes Kleidchen, von dem sie versuchte, durch knallige Plastikarmreifen abzulenken, die an ihrem Handgelenk klimperten. Sie sah sich in seinem Zimmer um, als wäre es ein Museum, in dem man nichts anfassen durfte und sich ehrfürchtig alles einprägen musste.
„Wie heißen Sie?“, fragte er.
„Cherryl Brooks.“
„Setzen Sie sich.“
Schweigend mixte er die Drinks, während sie auf der Kante eines Lehnstuhles saß und gehorsam wartete. Als er ihr ein Glas reichte, trank sie artig einige Male daraus und hielt es dann mit ihrer Hand umklammert. Er wusste, dass sie gar nicht schmeckte, was sie
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