Der Streik
mit einem Kumpel. „Sie hätten gestern Orren Boyle sehen sollen, als im Rundfunk die ersten Nachrichten aus Wyatt Junction durchgegeben wurden. Er ist grün geworden – und ich meine grün , wie ein Fisch, der zu lange herumgelegen hat. Wissen Sie, was er gestern Abend getan hat, um die schlechten Neuigkeiten zu verkraften? Er mietete sich eine Suite im Hotel Valhalla – und Sie wissen ja, was das ist –, und das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass er heute immer noch dort war, um sich mit einer kleinen Auswahl seiner Freunde und der halben weiblichen Bevölkerung aus der oberen Amsterdam Avenue unter den Tisch und das Bett zu saufen!“
„Wer ist Mr. Boyle?“, fragte sie verdutzt.
„Ach, nur ein fetter Tölpel, der dazu neigt, sich zu übernehmen. Ein schlauer Kerl, der manchmal zu schlau wird. Sie hätten gestern sein Gesicht sehen sollen! Es hat mir wirklich Spaß gemacht. Sein Gesicht – und das von Dr. Floyd Ferris. Diesem Weichling hat es gar nicht gefallen, kein bisschen! Der elegante Dr. Ferris vom State Science Institute, der Diener der Menschheit mit seiner polierten Ausdrucksweise. Aber er hat es recht gut hinbekommen, muss ich sagen, außer dass man sehen konnte, wie er sich in jedem Absatz wand – ich meine dieses Interview, das er heute Morgen gegeben hat, in dem er sagte: ‚Das Land hat Rearden dieses Metall gegeben, nun erwarten wir, dass er dem Land etwas zurückgibt.‘ Das war recht raffiniert, wenn man bedenkt, wer hier abgesahnt hat und … na ja, jedenfalls. Das war noch besser als Bertram Scudder – Mr. Scudder fiel nichts Besseres ein als ‚Kein Kommentar‘, als seine Kollegen von der Presse ihn baten, seine Gefühle zu beschreiben. ‚Kein Kommentar‘ – ausgerechnet von Bertram Scudder, der bekanntlich seit seiner Geburt nicht ein einziges Mal die Klappe gehalten hat und über alles spricht, was man ihn fragt oder nicht fragt, sei es abessinische Poesie oder der Zustand der Damentoiletten in der Textilindustrie! Und Dr. Pritchett, der alte Narr, läuft herum und behauptet, sicher zu wissen, dass Rearden das Metall nicht selbst erfunden hat, weil ihm eine anonyme, verlässliche Quelle gesagt habe, Rearden habe die Formel von einem mittellosen Erfinder gestohlen und ihn umgebracht!“
Er kicherte belustigt. Sie lauschte ihm wie einem Professor der höheren Mathematik, obwohl sie nichts verstand, nicht einmal seine Art zu sprechen. Diese Sprache machte das Geheimnis nur noch größer, weil sie sicher war, dass sie bei ihm nicht das bedeutete, was sie überall sonst bedeutet hätte.
Er füllte sein Glas auf und leerte es erneut, aber seine gute Laune verflog plötzlich. Er ließ sich in einen Sessel fallen, wandte sich zu ihr um und sah mit einem trüben Blick unter seiner kahlen Stirn zu ihr hinauf.
„Morgen kommt sie zurück“, sagte er mit einem Laut, der einem Auflachen glich, aber keine Spur von Heiterkeit enthielt.
„Wer?“
„Meine Schwester. Meine liebe Schwester. Sie wird sicher denken, sie sei die Größte, nicht wahr?“
„Sie mögen Ihre Schwester nicht, Mr. Taggart?“ Er wiederholte den gleichen Laut, der so viel sagte, dass sie keine Antwort mehr brauchte. „Warum?“, fragte sie.
„Weil sie denkt, dass sie so gut ist. Welches Recht hat sie, so zu denken? Mit welchem Recht kann überhaupt jemand denken, er sei gut? Niemand ist gut.“
„Das meinen Sie doch nicht so, Mr. Taggart.“
„Ich meine, wir sind nur Menschen – und was ist der Mensch schon? Eine schwache, hässliche, sündhafte Kreatur, die schon so geboren wird, verdorben bis auf die Knochen – daher ist Demut die einzige Tugend, die er ausüben sollte. Er sollte sein Leben lang auf seinen Knien rutschen und um Vergebung für seine schmutzige Existenz bitten. Wenn ein Mensch denkt, er sei gut – dann ist er verdorben. Stolz ist die schlimmste aller Sünden, egal, was einer vollbracht hat.“
„Aber wenn ein Mensch weiß, dass er etwas Gutes geschaffen hat?“
„Dann sollte er sich dafür entschuldigen.“
„Bei wem?“
„Bei denen, die es nicht geschaffen haben.“
„Das … das verstehe ich nicht.“
„Natürlich verstehen Sie das nicht. Es erfordert Jahre über Jahre der Auseinandersetzung mit den höheren Sphären des Intellekts. Haben Sie jemals von dem Buch Die metaphysischen Widersprüche des Universums von Dr. Simon Pritchett gehört?“ Eingeschüchtert schüttelte sie den Kopf. „Und überhaupt, wie weiß man, dass etwas gut ist? Wer weiß schon, was gut
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