Der Streik
wieder weg, argwöhnisch und verstohlen.
Rearen zog eine Zehndollarnote hervor, hielt sie ihm hin und fragte: „Würden Sie uns bitte den Weg zur Fabrik erklären?“
Der Mann starrte mit mürrischem Desinteresse auf das Geld, ohne sich zu bewegen oder die Hand danach auszustrecken, immer noch seine Eimer umklammernd. Wenn es irgendwo einen Mann gab, der bar jeder Gier war, stand er hier vor ihnen, dachte Dagny.
„Wir brauchen hier kein Geld“, sagte er.
„Arbeiten Sie denn nicht für Ihren Lebensunterhalt?“
„Doch.“
„Womit bezahlen Sie dann?“
Der Mann stellte die Eimer ab, als käme es ihm gerade eben in den Sinn, dass er sich nicht mit ihrem Gewicht abmühen musste, während er hier stand. „Wir verwenden hier kein Geld“, sagte er. „Wir tauschen bloß Dinge untereinander.“
„Und wie handeln Sie mit den Leuten aus anderen Städten?“
„Wir gehen nicht in andere Städte.“
„Sie scheinen es hier nicht leicht zu haben.“
„Warum kümmert Sie das?“
„Nur so. Reine Neugierde. Warum bleiben Sie alle hier?“
„Mein Vater hatte einen Lebensmittelladen hier. Nur hat dann die Fabrik geschlossen.“
„Warum sind Sie nicht weggezogen?“
„Wohin denn?“
„Irgendwohin.“
„Wozu?“
Dagny starrte auf die beiden Eimer: Es waren eckige Blechgefäße mit Griffen aus Seil; es waren Ölkanister gewesen.
„Hören Sie“, sagte Rearden, „können Sie uns sagen, ob es eine Straße zur Fabrik gibt?“
„Es gibt jede Menge Straßen.“
„Gibt es eine, die mit dem Wagen befahrbar ist?“
„Ich denke schon.“
„Welche?“
Ernsthaft dachte der Mann einige Augenblicke lang über die Frage nach. „Also, wenn Sie beim Schulhaus links abbiegen“, sagte er, „und weiterfahren bis zur krummen Eiche, ist dort eine Straße, die in Ordnung ist, wenn es für einige Wochen nicht geregnet hat.“
„Wann hat es zuletzt geregnet?“
„Gestern.“
„Gibt es eine andere Straße?“
„Na ja, Sie könnten durch Hansons Weide fahren und durch den Wald, und dort finden Sie eine gute, solide Straße bis hinunter zum Bach.“
„Gibt es eine Brücke über den Bach?“
„Nein.“
„Was ist mit den anderen Straßen?“
„Also, wenn Sie eine Straße brauchen, die Sie mit dem Wagen befahren können, gibt es eine auf der anderen Seite von Millers Grundstück, sie ist gepflastert, es ist die beste Straße für einen Wagen, Sie müssen nur beim Schulhaus rechts abbiegen und …“
„Aber diese Straße führt nicht zur Fabrik, oder?“
„Nein, nicht zur Fabrik.“
„Verstehe“, sagte Rearden. „Ich vermute, wir werden unseren eigenen Weg finden müssen.“
Er hatte eben den Motor angelassen, als ein Stein gegen die Windschutzscheibe flog. Das Glas war bruchsicher, aber Risse breiteten sich strahlenförmig darüber aus. Sie sahen einen zerrissenen kleinen Bengel mit kreischendem Gelächter hinter einer Ecke verschwinden und hörten das schrille Lachen von Kindern, die ihm durch Fenster oder Mauerspalten antworteten.
Rearden unterdrückte ein Schimpfwort. Der Mann blickte mit leicht gerunzelter Stirn gleichgültig über die Straße. Die alte Frau reagierte nicht. Still hatte sie dagestanden und sie beobachtet, ohne Interesse oder Ziel, wie eine Chemikalie auf einer Fotoplatte, die optische Formen absorbiert, weil sie da sind und absorbiert werden können, die aber unfähig ist, sich je einen Begriff von den visuellen Objekten zu machen.
Dagny hatte sie einige Minuten lang beobachtet. Die aufgeschwollene Formlosigkeit ihres Körpers sah nicht aus wie das Ergebnis von Altern und Verwahrlosung: Es sah aus, als wäre sie schwanger. Es schien ihr unmöglich, aber bei genauerem Hinsehen erkannte Dagny, dass ihr Haar unter der Farbe des Staubes nicht grau war und ihr Gesicht wenige Falten zeigte. Es waren nur die leeren Augen, die hängenden Schultern und die schlurfenden Bewegungen, die ihr den Anschein von Senilität gaben.
Dagny beugte sich hinaus und fragte: „Wie alt sind Sie?“
Die Frau sah sie an, nicht mit Groll, sondern vielmehr mit einem Blick, als hätte diese Frage keine Bedeutung. „Siebenunddreißig“, antwortete sie.
Sie waren bereits fünf der ehemaligen Häuserblocks weitergefahren, bis Dagny etwas sagte.
„Hank“, sagte sie erschüttert, „diese Frau ist nur zwei Jahre älter als ich!“
„Ja.“
„Mein Gott, wie konnten sie nur in einen solchen Zustand geraten?“
Er zuckte mit den Schultern. „Wer ist John Galt?“
Das Letzte, was sie sahen,
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