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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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nicht von der Zeit, sondern von Menschen zerfressen worden. Ziellos herausgerissene Wände, fehlende Dachstücke, Löcher in ausgehöhlten Kellern – es sah aus, als hätten Hände blindlings alles an sich gerissen, was sie gerade brauchten, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie das Leben am nächsten Morgen weitergehen sollte. Die bewohnten Häuser waren willkürlich zwischen den Ruinen verstreut; der Rauch aus ihren Kaminen war die einzige sichtbare Bewegung in der Stadt. Ein Betongehäuse, das einst eine Schule gewesen war, stand am Stadtrand; es sah aus wie ein Schädel mit leeren Augenhöhlen, wo einst die Fenster gewesen waren, und einigen Haaren aus zertrennten Kabeln, die immer noch an ihm hingen.
    Hinter der Stadt, auf einem fernen Hügel, stand die Fabrik der Twentieth Century Motor Company. Ihre Fassaden, Dachfirste und Kamine sahen intakt aus, uneinnehmbar wie eine Festung. Sie hätte einen unversehrten Eindruck gemacht, wäre da nicht ein silberner Wassertank gewesen, der seitlich umgekippt war.
    In dem Gewirr von Bäumen und Abhängen sahen sie keine Spur einer Straße zur Fabrik. Sie fuhren zur Eingangstür des ersten Hauses, aus dem ein leichter Rauch aufstieg. Die Tür stand offen. Eine alte Frau schlurfte heraus, als sie das Motorengeräusch hörte. Sie war gebückt und aufgeschwollen, ging barfuß und trug ein Gewand aus Mehlsäcken. Ohne Erstaunen, ohne Neugierde sah sie den Wagen an; es war das leere Starren eines Wesens, das die Fähigkeit verloren hatte, etwas anderes zu fühlen als Erschöpfung.
    „Können Sie mir sagen, wie man zur Fabrik kommt?“, fragte Rearden.
    Die Frau antwortete nicht sofort und sah ihn an, als verstünde sie ihn nicht. „Welche Fabrik?“, fragte sie.
    Rearden zeigte darauf. „Die dort.“
    „Sie ist geschlossen.“
    „Ich weiß, dass sie geschlossen ist. Aber kann man irgendwie dorthin gelangen?“
    „Das weiß ich nicht.“
    „Gibt es irgendeine Straße?“
    „In den Wäldern gibt es Straßen.“
    „Auch solche, die man mit dem Auto befahren kann?“
    „Vielleicht.“
    „Welche Straße nimmt man am besten?“
    „Das weiß ich nicht.“
    Durch die offene Tür konnten sie ins Innere ihres Hauses sehen. Dort stand ein nutzloser Gasherd, dessen Backröhre mit Stofffetzen vollgestopft war und als Kommode diente. In der Ecke gab es eine Kochstelle aus Stein, in der einige Holzscheite unter einem alten Wasserkessel brannten und von der lange Rußschwaden zur Decke aufstiegen. Ein weißer Gegenstand lehnte an den Beinen des Tisches: Es war ein Waschbecken aus Porzellan, das aus der Wand eines Badezimmers gerissen worden und jetzt mit welken Krautköpfen gefüllt war. Eine Talgkerze steckte in einer Flasche auf dem Tisch. Der Fußboden hatte keine Farbe mehr; sein feuchtes Grau schien Ausdruck des Schmerzes in den Knochen der Person zu sein, die ihn in gebückter Haltung geschrubbt hatte und die den Kampf gegen den Schmutz, der nun die Fasern der Dielen durchtränkte, verloren hatte.
    Eine zerlumpte Kinderschar hatte sich still in der Tür hinter der Frau versammelt, eines nach dem anderen. Sie starrten auf den Wagen, doch nicht mit strahlender, kindlicher Neugierde, sondern mit der Anspannung von Wilden, die bereit waren, beim ersten Anzeichen von Gefahr zu flüchten.
    „Wie viele Meilen sind es bis zur Fabrik?“, fragte Rearden.
    „Zehn Meilen“, sagte die Frau und ergänzte: „Vielleicht fünf.“
    „Wie weit ist die nächste Stadt entfernt?“
    „Es gibt keine nächste Stadt.“
    „Irgendwo gibt es immer andere Städte. Ich meine, wie weit sind sie entfernt?“
    „Ja. Irgendwo.“
    Auf der freien Fläche neben dem Haus sahen sie ausgeblichene Lumpen auf einer Wäscheleine hängen, die aus einem Stück Telegrafendraht bestand. Drei Hühner pickten in den Beeten eines kärglichen Gemüsegartens herum; ein viertes saß auf einer Stange, die einst ein Wasserrohr gewesen war. Zwei Schweine trotteten in Matsch und Abfall herum; die Trittsteine im Morast waren Betonstücke aus der Schnellstraße.
    Aus der Ferne hörten sie ein quietschendes Geräusch und sahen einen Mann, der mithilfe eines Flaschenzuges Wasser aus einem öffentlichen Brunnen schöpfte. Sie beobachteten ihn, während er langsam die Straße herunterkam. Er schleppte zwei Eimer, die für seine dünnen Arme zu schwer zu sein schienen. Man konnte nicht sagen, wie alt er war. Er kam näher und blieb stehen, um den Wagen anzusehen. Er warf den beiden Fremden einen Blick zu, dann sah er

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