Der stumme Tod
nach einer Fluchtmöglichkeit suchen und ging durch die offene Tür ins nächste Zimmer dieses Luxusgefängnisses. Zimmer war der falsche Ausdruck, das waren Gemächer. Ein Schlafgemach mit einem Himmelbett, in dem Rath niemals hätte schlafen können, dann eine kleine Bibliothek und ein geräumiger Salon. Dunkle Holzvertäfelungen an allen Wänden. Rath probierte jedes einzelne Fenster, Frau Marquard hatte nicht gelogen: Alle waren verschlossen. Schließlich gelangte er ins Speisezimmer, auch hier waren die Fenster nicht zu öffnen. Er wollte durch die zweite Tür in den nächsten Raum, seinen Erkundungsgang fortsetzen, doch die war verschlossen.
Er hatte das Ende des Gefängnisses erreicht. Ein Ausgang!
Rath warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die schwere Tür. Das brachte ihm eine schmerzende Schulter ein, sonst nichts. Die Tür gab kein Stück nach. Er versuchte es noch einmal und noch einmal. Vergeblich. Es strengte ihn an, mehr als sonst. Schließlich konnte er nicht mehr. Schwitzend und nach Luft japsend ließ er sich an der Tür auf den Boden sinken.
»Was machen Sie denn da?«
Rath schaute auf. Elisabeth Marquard war ihm gefolgt. Wie ein bleiches Gespenst stand die zierliche Frau in der Tür, und er hörte ihre tonlose Stimme.
»Sie sollten sich nicht so anstrengen. Das ist nicht gut in Ihrem Zustand!«
Rath konnte nicht antworten, er hechelte nur nach Luft.
»Sie kommen hier nicht raus. Finden Sie sich damit ab! Lassen Sie uns die Zeit nutzen, bis Sie gehen müssen, und noch ein wenig plaudern.«
Genauso verrückt wie ihr Sohn, die Frau! Rath schaute sie mut- und kraftlos an aus seiner Froschperspektive und dabei entdeckte er etwas in der Wand, gleich neben dem großen Beistelltisch.
Eine kleine Doppeltür, genauso dunkel wie die Holzvertäfelung, nahezu quadratisch und höchstens halb so groß wie eine normale Tür.
»Was ist das?«, fragte er und zeigte auf die Tür.
»Das? Der Speiseaufzug. Da schicken sie mir das Essen hoch. Damit mich die Dienstboten nicht zu Gesicht bekommen müssen.« Sie lächelte wieder ihr sinnloses Lächeln. »Damit meine Einsamkeit durch nichts gestört wird.«
»Das ist doch ein Weg hier raus«, keuchte Rath, »dieser Aufzug!«
»Unmöglich. Dazu brauchen Sie einen Helfer.« »Sie können mir helfen!«
»Und dann bin ich wieder allein. Warum sollte ich das tun? Ich bin doch froh, dass Sie mir Gesellschaft leisten.«
»Haben Sie mir nicht erzählt, dass Sie noch einmal zum See hinunterwollen? Den Wind in Ihren Haaren spüren?«
»Das sind doch nur Träume. Ich werde hier sterben.«
»Wie lange sind Sie schon hier eingesperrt? Wie viele Jahre? Wollen Sie wirklich hier sterben? Sollen wir beide hier sterben?« »Warum sonst sind wir hier?«
»Finden Sie sich doch nicht einfach damit ab, was Ihr Sohn mit Ihnen macht!«
»Er hasst mich, und ich liebe ihn. Das ist mein Schicksal« »Man kann sein Schicksal selbst in die Hand nehmen!«
»Das habe ich schon einmal versucht, es geht nicht. Es kommt immer anders, als man möchte im Leben. Man wird von den falschen Leuten geliebt ... und von den falschen gehasst.«
»Helfen Sie mir, aus diesem Gefängnis zu entkommen! Helfen Sie mir, und ich verspreche Ihnen, dass Sie wieder zum See hinauskönnen. Und ich leiste Ihnen Gesellschaft, sooft Sie wollen.«
Sie schien einen Moment über seine Worte nachzudenken. Dann ging sie zur Wand und öffnete die Tür. Dahinter war ein dunkler Kasten zu sehen.
»Vielleicht haben Sie recht.« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Wenn Sie sich ganz klein machen, könnten Sie hineinpassen.«
Ihr Flüstern ließ sie klingen wie eine Verschwörerin.
»Und dann machen Sie die Tür zu und schicken mich in die Küche, als sei ich Ihr dreckiges Geschirr.«
Sie nickte.
»Dann lassen Sie uns schnell machen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich noch habe.«
Rath zwängte sich mit angewinkelten Knien in den engen Kasten.
»Eine Frage noch«, sagte er, bevor sie die Tür schloss, »wie bekomme ich die Tür wieder auf?«
»Das ist ein Speiseaufzug, der ist nur von außen zu öffnen.« »Ist denn noch jemand in der Küche?«
Sie zuckte die Achseln.
»Wenn nicht, heißt das, ich muss in diesem engen Kasten jämmerlich verrecken?«
»Keine Angst. Dann hole ich Sie wieder hoch.«
»Um dann hier bei Ihnen jämmerlich zu verrecken. Tolle Aussichten!« Er seufzte. »Drücken Sie mir die Daumen«, sagte er, »wir werden es versuchen!«
Noch bevor Elisabeth Marquard die Tür geschlossen
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