Der stumme Tod
Lange?«
Lange schüttelte den Kopf. »Ne, die Liste war die ganze Zeit hier, die kann er nicht gekannt haben.«
»Schöne Scheiße«, entfuhr es Charly.
»Willst du mit diesen unflätigen Worten vielleicht sagen«, fragte Gräf, »dass Gereon Rath auf die Spur des Kinomörders gestoßen ist? Womöglich ohne es zu ahnen?«
Kapitel 54
Ein Telefon klingelte. Rath hatte das Gerät bislang gar nicht bemerkt, obwohl es in dieser Umgebung wie ein Fremdkörper
wirkte. Ein altes Gerät, die Sprechmuschel noch in den Apparat integriert, nur den Hörer konnte man abnehmen.
»Das ist Wolfgang«, hörte er die heisere Stimme von Elisabeth Marquard, »sonst ruft niemand hier an. Gehen Sie ran, es ist bestimmt für Sie.«
Er zögerte, und sie machte eine auffordernde Handbewegung.
Rath nahm den Hörer von der Gabel. »Ja?«, sagte er in den Trichter.
»Herr Kommissar, wie geht es Ihnen?« »Das wissen Sie doch am besten.«
»Es tut mir leid, aber Sie haben mir keine andere Wahl gelassen.
Sie hätten mich nicht besuchen dürfen, nicht jetzt schon.«
»Ich habe Sie schon einmal besucht, da haben Sie mich freundlicher behandelt.«
»Da haben Sie auch keinen Hund mitgebracht, der in meinem Haus herumschnüffelt.«
»Was ist mit Kirie?«
»Sie sollten sich nicht um den Hund sorgen, sondern um sich selbst.«
»Noch können Sie zurück. Lassen Sie mich gehen, retten Sie mein Leben. Wenn ich sterbe, wird alles nur noch schlimmer. Glauben Sie im Ernst, Sie können so Ihrer Verhaftung entgehen? Wollen Sie neben den anderen Morden auch noch einen Polizistenmord zu verantworten haben?«
»Sie haben nichts verstanden, Herr Kommissar. Es geht überhaupt nicht um Mord.«
»Wenn mich nicht alles täuscht, haben Sie zwei Schauspielerinnen auf dem Gewissen. Wie nennen Sie das?«
»Ich habe diese Frauen doch nicht ermordet! Ich habe sie unsterblich gemacht.«
»Das erklären Sie mal dem Richter.«
»Wie Sie so reden, Herr Kommissar, das zeigt mir nur, dass Sie wirklich nichts verstanden haben. Aber das tut auch nichts zur Sache. Ich wollte Sie lediglich sprechen, um Ihnen zu sagen, dass es mir leid tut, aber Sie haben mir keine andere Wahl gelassen, deswegen müssen Sie dieses Opfer bringen. Und jetzt darf ich mich entschuldigen, ich habe noch einen Gast, um den ich mich kümmern
muss.«
Er hatte aufgelegt.
Elisabeth Marquard schaute erwartungsvoll. »Hat er mich grüßen lassen?«, zischte sie.
Die Frau hatte Nerven. »Nein«, sagte Rath, und ihre hoffnungsvolle Anspannung sackte wieder in sich zusammen.
Er setzte sich auf das Sofa, mit einem Mal fühlte er, wie seine Beine weich wurden. Nach einem Moment hatte er den Schwächeanfall wieder überwunden.
»Warum sperrt er Sie hier ein?«, fragte er.
Sie zuckte die Achseln. »Weil er mich hasst?« Sie lächelte, als sie das sagte. »Dabei ist es sein Vater, den er eigentlich hassen sollte. Der hat ihn nämlich eingesperrt damals!«
»Warum eingesperrt?«
»Doktor Schlüter wollte das so.«
»Was für einen Grund gibt es, seinen eigenen Sohn einzusperren, Frau Marquard? War er vielleicht damals schon gefährlich?«
»Gefährlich?« Sie schaute ihn an, als zähle schon die Vermutung, ihr Sohn könne gefährlich sein, zu den sieben Todsünden. Kopfschüttelnd drehte sie sich um und schaute wieder aus dem Fenster. »Wolfgang war vierzehn«, hörte Rath ihr heiseres Flüstern, »da ist er schwer erkrankt. Zunächst war es einfach Mumps, aber dann ... die Bauchspeicheldrüse ... eine schwere Entzündung. Das arme Kind, wir haben um sein Leben gefürchtet! Er hat es überstanden, aber um welchen Preis!«
»Diabetes. «
Sie nickte. »Doktor Schlüter hat uns Hoffnung gemacht. Es war nicht alles zerstört, er hat noch Insulin produziert, aber viel zu wenig. Eine strenge Diät, hat der Medizinalrat gesagt, und Wolfgang kann noch viele Jahre leben. Aber der Junge war ja so unvernünftig! «
»Und deswegen haben Sie Ihren Sohn eingesperrt? Weil er sonst seine Diät nicht eingehalten hätte?«
»Ich habe ihn nicht eingesperrt«, fauchte sie, »das war mein Mann!«
»Wo ist denn Ihr Mann? Warum rächt sich Ihr Sohn nicht an dem?«
»Richard ist schon lange tot. Genau wie Doktor Schlüter.« »Hat Ihr Sohn ... «
»Nein! Wo denken Sie hin?«
Das ungewohnte Sprechen hatte sie angestrengt, Elisabeth Marquard musste eine Pause machen. Sie schwieg und schaute aus dem Fenster.
Rath spürte, wie es ihm zunehmend schwerer fiel, noch zusammenhängende Gedanken zu fassen. Er musste
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