Der stumme Tod
den falschen Stellen nach und überhören die wesentlichen. Er kann nicht mit ihnen reden.
Sie haben ihm nichts gelassen, nicht einmal die Spritzen. Ein Arzt kommt in seine Zelle und gibt ihm das Insulin. Genau bemessen. Regelmäßig nehmen sie ihm Blut ab, sie wollen nichts falsch machen.
Er streckt sich aus auf seiner Pritsche, der Schneehimmel draußen macht ihn ruhig.
Es ist vorbei, er muss sich damit abfinden, sein Leben ist zu Ende.
Die Hälfte seines Lebens hat er den eigenen Körper als größten Feind erfahren. Seitdem weiß er, wie wenig der Mensch den eigenen Möglichkeiten entspricht, solange er in diesem Körper gefangen ist. Um sich zu seinem wirklichen Wesen emporzuschwingen, muss der Mensch sich von diesem Körper befreien, muss ihn hinter sich lassen. Und das kann er nur in der Kunst. Oder im Tod.
Er weiß es, er hat beides miteinander verschmolzen. Und er bedauert nichts.
Nur, dass sie ihn seine letzte Arbeit nicht haben vollenden lassen; es wäre besser geworden denn je.
Vollkommen.
Warum haben sie ihn eingesperrt, ihn, der Menschen unsterblich machen kann - und den Mörder von Betty Winter, der sie geschändet und um ihre Unsterblichkeit gebracht hat, den lassen sie frei herumlaufen!
Er versteht es nicht. Und sie verstehen ihn nicht. Nichts von dem, was er ihnen erzählt hat, nichts von dem, was er getan hat. Man kann mit ihnen nicht reden.
Und wo man nicht reden kann, da soll man schweigen.
Er hört Schritte und das metallische Rasseln des Schlüsselbundes.
Im Schloss klackert und quietscht es, und dann öffnet sich die Tür. Sie holen ihn wieder. Sie wissen nicht, dass er schon tot ist.
Kapitel 61
Er hatte keine Ahnung, wo diese Reise enden würde und ob sie jemals enden würde. Überall Dunkelheit, und dennoch spürte er die Bewegung. Dann erkannte er in dieser dunklen Enge einen winzigen Punkt, kaum stecknadelgroß, der erst langsam und dann immer schneller größer und größer wurde. Er hatte Angst vor dem Ende der Reise, Angst vor dem, was er möglicherweise zu sehen bekommen würde. Und Angst davor, dass ihm schlecht werden könnte, und kein Eimer in der Nähe wäre. Komischerweise hatte er keine Angst vor den Schmerzen.
Und dann lag er da, mit einem Mal ganz ruhig, und starrte ins Weiß. Ohne Angst, ohne Übelkeit, ohne Schmerzen. Erkannte, dass das Weiß kein Weiß war, sondern ein fleckig helles Eierschalengelb. Und mittendrin eine Vierzig-Watt-Birne in einer billigen Fassung, die nicht leuchtete, sodass er den Osram-Schriftzug mitsamt der Wattzahllesen konnte.
»Er hat die Augen geöffnet!«
Ein Schatten verdunkelte sein Blickfeld, und er blinzelte ihn so lange an, bis er Konturen bekam.
Zwei Gesichter.
Ein strenges Frauengesicht, eingerahmt von einer weißen Haube, das andere freundlich mit dunklen, braunen Augen.
Das Haubengesicht verschwand wieder.
»Ich gehe den Doktor holen.« Die braunen Augen blieben.
Er hätte sich ewig so anschauen lassen können von ihr. Sie schaute so besorgt, dass er grinsen musste.
»Wo sind wir?«, fragte er. »Bei dir oder bei mir?«
»Mensch, Gereon!« Charly drückte ihn und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Er hob die Hand und streichelte ihr durchs Haar. Dabei bemerkte er, dass in seinem Arm ein dünner Gummischlauch steckte.
Charly setzte sich wieder auf. Ihre Augen glänzten ein bisschen. »Weißt du eigentlich, wie nah du am Tod vorbeigeschrammt bist?«, fragte sie. »Und machst gleich schon wieder Witze!«
»Kein Witz«, sagte er. »Ich möchte wirklich gern wissen, wo ich bin.«
»Im Urbankrankenhaus. «
»Und du bist meine Krankenschwester?«
Sie schüttelte den Kopf. »Schwester Angelika wird gleich wiederkommen, bei der wird dir das Witze machen schon vergehen.«
»Wo ist Kirie?«
»In der Spenerstraße. Sie fragt immerzu nach dir!« Sie lächelte. »Der Hund fühlt sich ganz wohl bei mir. Aber keine Bange: Du kriegst ihn zurück.«
»Ich bin also dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen?« »Wenn Böhm nicht gewesen wäre, wer weiß, ob ... «
»Wer?«
»Böhm. Wilhelm Böhm hat dir das Leben gerettet.«
Er richtete sich auf. »Ausgerechnet Böhm! Hättet ihr mich nicht sterben lassen können?«
»Mach keine Witze darüber!« Sie schaute ihn streng an. »Wird Zeit, dass die Schwester kommt!«
»Böhm war also auch da! Was ist überhaupt passiert? Ich kann mich nur erinnern, dass Marquard mich mit Insulin vollgepumpt hat, und seine Mutter ... « Verschwommene Erinnerungen tauchten aus der Tiefe an
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