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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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Gängen gesucht. Hatte an die Felswände geschlagen. Hatte versucht, in den Tränenteich zu steigen, doch der hatte ihn in einem Luftstrom wie aus Millionen Kehlen wieder ausgespien.
    Und jetzt diese Stimme.
    Â»Länger«, sprach sie.
    Dor sah nur weiße Rauchfetzen über dem Teich, der nun türkis aufleuchtete.
    Â»Zeig dich!«
    Nichts geschah.
    Â»Antworte mir!«, schrie Dor.
    Dann hörte er es erneut. Ein einziges Wort. Leise, kaum hörbar, ein gemurmeltes Gebet.
    Â» Länger .«
    Was soll länger sein ?, fragte sich Dor. Er kauerte vor dem Teich, starrte in das leuchtende Wasser, ausgehungert nach Zeichen menschlicher Nähe.

    Schließlich hörte er eine zweite Stimme.
    Eine Frau.
    Â»Mehr«, sagte sie.
    Dann ein kleiner Junge, der dasselbe sagte. Die vierte Stimme – es wurden nun schnell mehr – erwähnte die Sonne, die fünfte den Mond. Die sechste flüsterte »mehr, mehr«, und die siebte wünschte sich »nur noch einen Tag«, und die achte flehte »für immer«.
    Dor zupfte an seinem Bart, der so verwildert war wie seine Haare. Trotz der Isolation funktionierte sein Körper normal. Er war genährt, ohne dass ihm Nahrung zugeführt wurde, und auch ohne Schlaf ausgeruht.
    Dor konnte in der Höhle herumlaufen und seine Finger mit dem langsam tropfenden Wasser aus der Spalte benetzen. Doch er entkam den Stimmen aus dem leuchtenden Teich nicht, die unablässig um Tage, Nächte, Sonnen, Monde, um Stunden, Monate, Jahre baten. Und er hörte sie nicht minder laut, wenn er sich die Ohren zuhielt.
    Und so begann Dor ohne sein Wissen seine Strafe abzubüßen.
    Seine Strafe, die darin bestand, sich jede Bitte jeder einzelnen Menschenseele anhören zu müssen, die mehr verlangte von dem, das Dor als Erster erkannt hatte, diesem Etwas, das den Menschen aus dem schlichten Licht seiner Existenz herausjagte und hineintrieb in die Düsternis seiner Gelüste.
    Zeit.
    Für jeden außer Dor schien sie zu schnell zu vergehen.

21
    Sarah las die SMS von Ethan auf ihrem Handy.
    Und ihr wurde flau im Magen.
    Â» Können wir nächste Woche treffen? Kann heute nich. Sehn uns im Heim .«
    Sarahs Knie gaben nach wie bei einer Marionette, bei der die Fäden gelockert werden. Nein! , schrie etwas in ihr. Nicht nächste Woche! Jetzt! Wir sind verabredet! Ich hab mir so viel Mühe gemacht!
    Sie wollte Ethan umstimmen. Aber sie musste antworten, und wenn sie zu lange zögerte, würde er glauben, dass sie sauer war.
    Deshalb schrieb sie nicht » nein «, sondern: » Kein Problem.«
    Dann fügte sie hinzu: » Bis dann im Heim .«
    Und: » Viel Spaß .«
    Um 19.22 schickte sie die Nachricht ab.
    Dann lehnte sie sich an einen Ampelpfosten und versuchte sich einzureden, dass die Absage nichts mit ihr zu tun hatte. Dass Ethan nicht gekniffen hatte, weil sie zu streberhaft oder zu dick war oder zu viel redete oder dergleichen. Dass er einfach nur etwas anderes vorhatte. Das konnte schließlich passieren, nicht wahr?
    Und jetzt? , fragte sie sich.
    Die Nacht war ein leerer Krater. Sie konnte nicht nach Hause gehen. Nicht, solange ihre Mutter noch wach war. Sarah wollte nicht erklären müssen, weshalb sie sich für einen kurzen Spaziergang derartig zurechtgemacht hatte.
    Sie ging zu einem Coffeeshop in der Nähe, bestellte sich einen Latte Macchiato mit Schokolade und eine Zimtschnecke und setzte sich in die Ecke.
    Acht Minuten vor halb neun? , sagte sie sich. Na komm schon.
    Doch insgeheim zählte sie schon die Tage bis nächsten Freitag.

22
    Victor hat es immer beherrscht, den kritischen Punkt bei Problemen zu finden und sie zu lösen.
    Scheiternde Firmen. Deregulierung. Marktschwankungen. Man musste nur den entscheidenden Aspekt finden, den andere übersahen.
    Dem Tod näherte sich Victor auf dieselbe Weise.
    Zunächst kämpfte er mit den üblichen Methoden gegen den Krebs – Operation, Bestrahlung, Chemotherapie, die ihn schwächte und ihm Übelkeit verursachte. Diese Behandlungsmethoden stoppten zwar das Wachstum des Tumors, ruinierten aber seine Nieren. Er war gezwungen, dreimal die Woche zur Dialyse zu gehen. Um die Zeit zu nutzen, erledigte er währenddessen mit seinem Assistenten Roger die Post und ließ sich auf den neusten Stand der Geschäfte bringen. Victor war nicht willens, auch nur eine Minute seines Arbeitstags zu vergeuden. Er schaute unentwegt auf die

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