Der Stundenzaehler
nur für ihn, so kostspielig das auch sein mochte .
Wenn er schon Jahrhunderte darauf warten musste, wiederbelebt zu werden, dann wollte er das wenigstens alleine tun können.
26
Jede Höhle beginnt mit Regen.
Der Regen mischt sich mit Gasen. Das angesäuerte Wasser frisst sich durch Stein, und winzige Risse weiten sich zu Ãffnungen, die schlieÃlich â nach vielen Tausenden von Jahren â groà genug sind, um einen Menschen einzulassen.
Dors Höhle war also bereits ein Ergebnis der Zeit. Doch in ihrem Inneren entstand noch ein weiteres ZeitmaÃ: Aus dem Wasser, das aus dem Riss an der Decke rann, bildete sich nach und nach ein Stalaktit.
Und aus den Tropfen des Stalaktiten wuchs ganz allmählich ein Stalagmit heran.
Im Laufe der Jahrhunderte näherten sich die beiden einander an, als seien sie magnetisch voneinander angezogen, jedoch so langsam, dass Dor es nicht bemerkte.
Einst war er stolz darauf gewesen, mit Wasser die Zeit messen zu können. Doch der Mensch erfindet nichts, was Gott nicht längst ersonnen hätte.
Dor lebte in der gröÃten aller Wasseruhren.
Darauf verschwendete er keinen Gedanken. Er stellte das Denken überhaupt ein.
Er bewegte sich nicht mehr. Er stand nicht mehr auf. Stützte nur das Kinn in die Hand und saà reglos inmitten all der ohrenbetäubenden Stimmen.
Bisher war es keinem Menschen vergönnt gewesen, nicht zu altern, seinen Lebensatem niemals zu verbrauchen. Nur Dor. Doch innerlich war Dor zerstört. Nicht zu altern ist nicht gleichbedeutend mit leben, und ohne die Nähe anderer Menschen verdorrte Dors Seele.
Als die Stimmen aus dem Teich immer zahlreicher wurden, hörte Dor keine Unterschiede mehr. Es war etwa so, wie wenn man Regen lauscht. Sein Geist wurde träge. Seine Haare, sein Bart, seine Nägel wuchsen ungehindert, und er verlor jegliches Bewusstsein für sein ÃuÃeres. Er hatte sich selbst zuletzt gesehen, als Alli und er ihr Spiegelbild im groÃen Fluss angelächelt hatten.
Diese Erinnerungen wollte Dor um jeden Preis bewahren. Er schloss die Augen, um sich die Bilder ins Gedächtnis zu rufen. Und irgendwann in seiner Leidenszeit entkam Dor seiner eigenen Düsternis, schärfte die Kanten eines Steins und begann Zeichnungen in die Felswände zu ritzen.
Auf Erden hatte er dieses Werkzeug auch schon benutzt â¦
⦠aber nur um die verflieÃende Zeit zu vermerken, um zu zählen, Sonne und Mond zu verzeichnen â die erste Mathematik der Welt.
Nun begann er etwas Neues: Zuerst ritzte Dor drei Kreise in die Wände, um das Gedächtnis an seine Kinder zu bewahren. Jedem Kreis gab er einen Namen. Dann zeichnete er einen Viertelmond, als Erinnerung an den Abend, als er zu Alli gesagt hatte: »Sie ist meine Gemahlin.« Ein Viereck stellte ihr erstes gemeinsames Heim dar â das Lehmhaus seines Vaters â und ein kleineres Viereck die Schilfgrashütte, in der sie zuletzt gelebt hatten.
Ein Auge sollte ihn an Allis Blick erinnern, der ihn stets bezaubert hatte. Wellige Linien waren das Symbol für ihr langes dunkles Haar und die Glückseligkeit, die er empfunden hatte, wenn er sein Gesicht darin barg.
Während Dor zeichnete, sprach er.
Er tat das, was Menschen tun, wenn sie alles verloren haben.
Er erzählte sich seine eigene Lebensgeschichte.
27
Lorraine wusste, dass ein Junge im Spiel war.
Weshalb sonst war ihre Tochter am Abend zuvor mit hochhackigen Schuhen ausgegangen? Lorraine hoffte nur, dass Sarah nicht an so einen Idioten wie ihren Vater geraten war.
Grace wusste, dass Victor zornig war.
Er hasste Niederlagen. Und es machte sie traurig, dass er in diesem letzten Kampf gegen die tödliche Krankheit keine Aussicht auf einen Sieg hatte.
Lorraine hörte, wie die Haustür aufging und ihre Tochter wortlos nach oben in ihr Zimmer eilte.
So sah ihr gemeinsames Leben nun aus: Mutter und Tochter wohnten unter einem Dach, doch sie waren einander nicht mehr nah.
Noch vor wenigen Jahren hatte das anders ausgesehen. Als Sarah in der achten Klasse war, hatte ein Mädchen im Sportunterricht einen Volleyball unter sein Hemd gesteckt und â ohne zu merken, dass Sarah sie hörte â gerufen: »Hey Leute, ich bin Sarah Lemon, kann ich eure Pommes haben?« Darauf war Sarah nach Hause gerannt und hatte sich auf dem Schoà ihrer Mutter ausgeweint. Lorraine hatte ihr das Haar gestreichelt und gesagt: »Die sollten alle von der Schule
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