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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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weiter.
    Â»Was war denn gestern Abend bei dir los?«
    O Gott . Nun war sie doch damit herausgeplatzt. Wie entsetzlich dumm von ihr!
    Â»Ich meine, ist ja nicht wichtig«, fügte sie hastig hinzu.
    Â»Ja, tut mir leid, ich konnte nicht …«
    Â»Macht ja nichts …«
    Â»War schlechtes Timing von mir …«
    Â»Nein, nein, gar kein Problem.«
    Â»Cool.« Er drückte die leeren Kartons zusammen und verstaute sie in den großen Mülltonnen.
    Â»Dann auf ein Neues«, sagte er.
    Â»Klar.«
    Â»Bis nächste Woche, Lemonade.«
    Er schlenderte davon wie immer, mit wippendem Schritt, die Hände in den Hosentaschen. Das war alles ? Mehr hatte er nicht zu sagen ? Was meinte er mit nächste Woche ? Freitagabend? Oder den Samstagmorgen? Warum hatte sie gefragt? Wieso musste eigentlich immer sie fragen?
    Ein Obdachloser mit einer blauen Mütze trat ans Fenster, um seinen Haferbrei abzuholen.
    Â»Gibt’s Bananen dazu?«, fragte er.
    Sarah reichte ihm seine Schale – diese Frage stellte der Mann jede Woche. Er bedankte sich. Sie murmelte »keine Ursache« und nahm sich ein Küchenpapier, um die letzte Apfelsaftflasche abzuwischen, die Ethan ausgepackt hatte; der Deckel hatte sich gelöst, und der Saft tropfte heraus.

25
    Â»Da drin?«, fragte Victor.
    Â»Ja«, antwortete der Mann. Er hieß Jed und war der Leiter des Kryonik-Unternehmens.
    Victor betrachtete die riesigen Fiberglasbehälter. Sie waren rund und dick, etwa vier Meter hoch und hatten die Farbe von schmuddeligem Schnee.
    Â»Wie viele Leute passen in solch einen Behälter?«
    Â»Sechs.«
    Â»Und die sind jetzt schon da drin, gefroren?«
    Â»Ja.«
    Â»Wie sind sie … angeordnet?«
    Â»Kopfunter.«
    Â»Warum?«
    Â»Weil es am wichtigsten ist, den Kopf zu schützen. Für den Fall, dass am oberen Teil etwas beschädigt wird.«
    Victor umklammerte den Knauf seines Gehstocks und bemühte sich um eine neutrale Miene. Er war elegante Hotels und Penthouses gewöhnt und fühlte sich in diesem Ambiente extrem unwohl. Die Kryonik-Firma war in einem einstöckigen Backsteingebäude mit Laderampe untergebracht und befand sich im Gewerbeviertel einer gesichtslosen New Yorker Vorstadt.
    Die Innenräume sahen entsprechend unattraktiv aus. Einige kleine Zimmer an der Vorderseite des Gebäudes. Ein Labor, in dem der Gefrierprozess begonnen wurde. Eine große Lagerhalle mit Linoleumboden, in der die Behälter nebeneinanderstanden.
    Nach Lektüre der Texte hatte Victor die Firma sofort besichtigen wollen. Er war die ganze Nacht ohne Schlafmittel wach geblieben, hatte die Schmerzen in Bauch und Rücken ignoriert und das gesamte Material zweimal durchgelesen. Obwohl die Kryonik eine recht junge Wissenschaft war (der erste Mensch war 1972 eingefroren worden), ergab sie für ihn durchaus Sinn. Man fror die Körper ein. Wartete, bis die Forschung weiter fortgeschritten war. Taute die Körper auf. Erweckte sie zum Leben und heilte sie.
    Dieser letzte Schritt war natürlich der anspruchsvollste. Doch Victor sagte sich, dass die Wissenschaft allein während seiner Lebenszeit gewaltige Fortschritte gemacht hatte. Zwei seiner Vettern waren als Kinder an Typhus und Keuchhusten gestorben. Heutzutage hätten sie diese Krankheiten überlebt. Die Dinge waren beständig im Wandel. Victor rief sich in Erinnerung, dass er immer flexibel bleiben wollte, auch in Bezug auf Wissen.
    Â»Was ist das?«, erkundigte er sich. Neben den Behältern stand ein weißer Holzkasten mit verschiedenen nummerierten Fächern, die Blumen enthielten.
    Â»Das ist für Familienmitglieder bestimmt, die hierherkommen«, erklärte Jed. »Jede Person hat eine Nummer. Die Besucher sitzen dort drüben.«
    Er wies auf eine senffarbene Couch an der Wand. Victor versuchte sich Grace auf diesem schäbigen Möbelstück vorzustellen, und dabei wurde ihm bewusst, dass er ihr seinen Plan nicht offenbaren konnte.
    Sie würde ihn niemals akzeptieren. Grace war eine fromme Kirchgängerin und hielt nichts davon, das Schicksal zu manipulieren.
    Und Victor hatte nicht die Absicht, mit ihr zu diskutieren. Er musste seinen Plan im Alleingang umsetzen.
    Auch im Angesicht des Todes sind wir nicht so anders wie in unserem Leben.
    Und Victor hatte seit seinem neunten Lebensjahr alles alleine erledigt.
    Er nahm sich vor: keine Besucher. Keine Blumen. Und einen Behälter

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