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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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verwandelte sich in einen echten Wassertropfen an seinem Finger.
    Der Alte ging hinüber zu dem Stalaktiten und dem Stalagmiten, die nur noch einen Millimeter voneinander entfernt waren. Er fügte die Träne in den Spalt ein und sah zu, wie sie erstarrte und die beiden Tropfsteine verband, die nun eine einzige Säule bildeten.
    Der Himmel berührt die Erde.
    Wie er vorausgesagt hatte.
    In diesem Augenblick spürte Dor, dass er in die Höhe gezogen wurde, als sei er eine Marionette.
    Seine Zeichnungen lösten sich von den Felswänden, flogen durch die Höhle wie Zugvögel und formten dann einen schmalen Ring um die Stelle, an der die beiden Felssäulen miteinander verschmolzen waren.
    Stalaktit und Stalagmit wurden zu glatten durchsichtigen Flächen – zwei Glaskolben, die zusammen ein riesiges Stundenglas bildeten.
    Darin befand sich der weißeste Sand, den Dor jemals gesehen hatte – so fein, dass er beinahe flüssig wirkte. Er rann vom oberen in den unteren Behälter, doch dabei veränderte sich die Menge in den beiden Kolben nicht.
    Â»Hierin befindet sich jeder Augenblick des Universums«, erklärte der Alte. »Du wolltest die Zeit beherrschen. Als Strafe für dich wird dir dein Wunsch gewährt.«
    Er berührte das Stundenglas mit seinem Stab, und es bekam einen goldenen Rahmen mit zwei verflochtenen Stäben und fiel Dor in den Arm.
    Er hielt die Zeit in Händen.
    Â»Geh jetzt«, sagte der Alte. »Du musst in die Welt zurückkehren. Deine Reise ist noch nicht vollendet.«
    Dor starrte ihn verständnislos an.
    Seine Schultern hingen kraftlos herab. Früher einmal wäre er bei diesem Vorschlag sofort losgerannt. Doch sein Herz war leer. Er wollte das alles nicht mehr. Alli war verschwunden, und sie würde nie mehr wiederkommen, sie war nur noch eine Träne an der Felswand. Welchen Sinn sollte das Leben – oder ein Stundenglas – nun noch haben?
    Dor gelang es, einen Ton in seiner Brust zu erzeugen, und schließlich flüsterte er leise:
    Â»Es ist zu spät.«
    Der Alte schüttelte den Kopf. »Es ist niemals zu spät oder zu früh. Sondern immer so, wie es bestimmt ist.«
    Er lächelte. »Es gibt einen Plan, Dor.«
    Dor blinzelte. Der Alte hatte ihn noch nie zuvor mit Namen angesprochen.
    Â»Kehre in die Welt zurück. Und sieh dir an, wie der Mensch die Augenblicke zählt.«
    Â»Warum?«
    Â»Weil du damit begonnen hast. Du bist der Vater der irdischen Zeit. Eines aber gibt es noch, das du nicht verstehst.«
    Dor berührte seinen Bart, der ihm bis zur Hüfte reichte. Gewiss hatte er länger gelebt als jeder andere Mensch. Warum war das Leben für ihn noch immer nicht zu Ende?
    Â»Du hast die Minuten gemessen«, sagte der Alte. »Aber hast du sie weise genutzt? Um zu ruhen? Zu genießen? Dankbar zu sein? Andere heiter zu stimmen und selbst heiteren Gemüts zu sein?«
    Dor blickte unter sich. Er wusste, dass er diese Frage verneinen musste.
    Â»Was soll ich tun?«, fragte er.
    Â»Finde eine Seele auf der Erde, die zu viel Zeit verlangt, und eine, die zu wenig Zeit verlangt. Lehre sie, was du gelernt hast.«
    Â»Wie kann ich sie finden?«
    Der Alte wies auf den Stimmenteich. »Erhöre ihr Leid.«
    Dor blickte auf den Teich und dachte an die Millionen von Stimmen, die dort zu vernehmen waren.
    Â»Was können zwei Menschen denn verändern?«
    Â»Du warst nur ein einziger Mensch«, erwiderte der Alte. »Und du hast die Welt verändert.«
    Er griff nach dem Stein, mit dem Dor seine Felszeichnungen angefertigt hatte, und zermalmte ihn zu Staub.
    Â»Nur Gott kann das Ende deiner Geschichte verfassen.«
    Â»Gott hat sich von mir abgewandt«, erwiderte Dor.
    Der Alte schüttelte den Kopf. »Du warst niemals alleine.«
    Er berührte Dors Gesicht, und Dor spürte Kraft in seinen Körper strömen wie Wasser in einen Becher.
    Langsam begann der Alte, sich vor seinen Augen aufzulösen. Immer durchsichtiger zu werden.
    Â»Und bedenke immer«, sprach er noch, »dass Gott die Tage des Menschen aus gutem Grund beschränkt.«
    Â»Was ist dieser Grund?«
    Â»Vollende deine Reise, dann wirst du es erfahren.«

30
    Nach Ethans Absage hätte Sarah sich auch gegen eine weitere Verabredung entscheiden können.
    Doch ein verzweifeltes Herz verführt den Geist. Und deshalb startete Sarah zwei Wochen nach ihrer Enttäuschung

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