Der Stundenzaehler
verwiesen werden.«
Nun fehlte Lorraine das Gefühl, Trost spenden und ihrer Tochter nahe sein zu können. Sie hörte Sarah oben und hätte so gern mit ihr gesprochen, doch die Zimmertür blieb immer geschlossen.
Grace hörte, wie Victor zurückkam.
»Er ist jetzt da, Ruth«, sagte sie ins Telefon. »Ich ruf dich später wieder an.«
Grace ging zur Tür und nahm Victor den Mantel ab.
»Wo warst du denn?«
»Im Büro.«
»Am Samstag?«
»Ja.«
Victor ging, auf seinen Stock gestützt, den Flur entlang. Grace bemerkte den Ordner unter seinem Arm, äuÃerte sich aber nicht dazu, sondern sagte nur: »Möchtest du Tee?«
»Danke, nein.«
»Etwas essen?«
»Nein.«
Grace erinnerte sich an Zeiten, als Victor sie an der Tür geküsst, sie zärtlich hochgehoben und mit Fragen überfallen hatte. »Wohin möchtest du an diesem Wochenende reisen? Nach London? Oder nach Paris?« Auf der Veranda einer Villa am Meer hatte Grace einmal gesagt, wie schön es gewesen wäre, wenn sie sich schon früher kennengelernt hätten. Und Victor hatte erwidert: »Das gleichen wir aus. Wir werden ein langes gemeinsames Leben haben.«
Dass es solche Momente gegeben hatte, rief Grace sich nun in Erinnerung, und sie hielt sich dazu an, geduldig und mitfühlend zu sein; sie wusste schlieÃlich nicht, wie Victor angesichts seiner schwindenden Tage, des nahenden Todes wirklich zumute war. So abwesend oder gereizt er auch sein mochte â sie war entschlossen, die kurze ihnen noch verbleibende Zeit eher so zu gestalten wie ihre ersten gemeinsamen Jahre und nicht wie die lange freudlose Phase danach.
Sie konnte nicht ahnen, dass Victor sich in Gedanken schon mit einem ganz anderen Leben befasste.
28
Seit Anbeginn der Zeit sind Menschen auf eine Weise miteinander verknüpft, die sie nicht verstehen können â nicht einmal in Träumen.
Wie Dor Stimmen von Menschen hörte, die er nicht sehen konnte, so erblickte manchmal jemand Dors Abbild im Traum.
Auf einem Porträt der Königin Elizabeth aus dem siebzehnten Jahrhundert blickt ein Skelett ihr über die eine Schulter, ein alter bärtiger Mann über die andere. Das Skelett weise auf den Tod hin, aber der geheimnisvolle bärtige Mann sei ihm im Traum erschienen und symbolisiere die Zeit, erklärte der Maler.
Auf einer Radierung aus dem neunzehnten Jahrhundert ist ein bärtiger Mann mit einem Säugling im Arm als Sinnbild für das neue Jahr dargestellt. Niemand weiÃ, weshalb der Maler sich für diese Gestalt entschieden hat. Kollegen hatte er erzählt, diese Figur habe er in einem Traum erblickt.
1898 entstand eine Bronzeskulptur von einem muskulösen unbekleideten Mann mit Bart, der eine Sichel und ein Stundenglas in Händen hält. Die Statue befindet sich oberhalb einer gewaltigen Uhr in einer Rotunde. Wer das Modell für den bärtigen Mann war, wurde nie geklärt.
Doch man nannte die Figur »Vater Zeit«.
Und Vater Zeit sitzt alleine in einer Höhle.
Stützt den Kopf in die Hände.
So begann unsere Geschichte. Und sie führte uns von drei Kindern, die einen Hügel hinaufrennen, zu diesem einsamen Ort, zu einem bärtigen Mann, einem Teich voller Stimmen. Der Stalaktit ist nur noch einen Millimeter vom Stalagmiten entfernt.
Sarah ist in ihrem Schlafzimmer.
Victor ist in seinem Studierzimmer.
Gegenwart. Jetzt.
Unsere Zeit auf Erden.
Und Dors Zeit für die Freiheit.
Fall
29
»Was weiÃt du über die Zeit?«
Dor blickte auf.
Der Alte war zurückgekehrt.
Unserem Kalender zufolge waren sechstausend Jahre vergangen. Dor keuchte ungläubig. Als er sprechen wollte, brachte er keinen Laut hervor; sein Geist fand den Weg zu seiner Stimme nicht mehr.
Der Alte trat leise in die Höhle, betrachtete interessiert die Wände, in die alle erdenklichen Zeichen eingeritzt waren: Kreise, Rechtecke, Ovale, Quadrate, Linien, Wolken, Augen, Lippen â Symbole für Dors Erinnerungen an sein Leben. Hier hat Alli den Stein geworfen ⦠Hier sind wir zum groÃen Fluss gegangen ⦠Da kam unser Sohn zur Welt â¦
Das letzte Zeichen in der unteren Ecke war eine Träne, mit der Dor sich an den Moment erinnerte, als Alli im Sterben lag.
Das Ende seiner Geschichte.
Aus seiner Sicht jedenfalls.
Der Alte bückte sich und streckte die Hand aus.
Er berührte die gezeichnete Träne, und sie
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