Der Stundenzaehler
â zwei Wochen, die aus langweiligen Schulstunden und einsamen Abendessen vor dem Computer bestanden hatten â einen weiteren Versuch. An einem Samstag stand sie besonders früh auf â um 6.32 â und zog sich an, als ginge sie zu einer Party anstatt ins Obdachlosenheim. Sie wählte eine Bluse mit tiefem Ausschnitt und einen engen Rock. Im Internet hatte sie sich sogar Schminktipps geholt. Das war ihr zwar etwas peinlich, da sie selbst ständig an Lorraines starkem Make-up herummäkelte (»willst du damit alle Blicke auf dich ziehen?«, hatte sie ihrer Mutter schon vorgehalten). Doch Sarah nahm an, dass Ethan dauernd von attraktiven Mädchen mit noch tieferen Dekolletés und noch knalligerem Make-up umschwärmt war, als sie es heute trug. Wenn sie den Jungen für sich gewinnen wollte, musste sie einige ihrer Gewohnheiten ändern.
Zum Glück schlief Lorraine noch, so dass Sarah sich unbemerkt davonschleichen konnte.
Sie fuhr mit dem Wagen ihrer Mutter zum Heim und war zufrieden mit sich. Doch als ein paar Obdachlose pfiffen und sagten: »Sie sehen aber heute hübsch aus, Miss«, lief Sarah rot an und behauptete hastig, sie habe nachher noch etwas vor. Plötzlich fühlte sie sich fehl am Platz. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sich so aufzutakeln? Sie gehörte nicht zu der Art von Mädchen, die so etwas durchhalten konnte. Zum Glück hatte sie noch ein Sweatshirt dabei. Hastig zog sie es über.
Und plötzlich kam Ethan herein, unter jedem Arm einen Karton. Sarah richtete sich auf und strich sich über die Haare.
»Lemonade«, sagte er und nickte ihr zu.
Gefiel sie ihm?
»Hi, Ethan«, sagte Sarah. Sie versuchte beiläufig zu klingen, aber bei seinem Anblick wurde ihr glühend heiÃ.
31
Victor saà an seinem Schreibtisch, studierte das Material aus dem Ordner und dachte wieder daran, was Jed, der Mann von dem Kryonik-Unternehmen, vor zwei Wochen gesagt hatte.
»Betrachten Sie das Einfrieren als Rettungsboot in die Zukunft. Wenn die Medizin Fortschritte macht, wird es ein Spaziergang sein, Sie von Ihrer Krankheit zu heilen.
Sie müssen sich nur in das Rettungsboot begeben, einschlafen und auf die Rettung warten.«
Victor strich sich über den Bauch. Den Krebs loswerden. Die Dialyse loswerden. Ein Spaziergang .
Er ging in Gedanken die einzelnen Schritte des Einfrierens durch, die Jed ihm erklärt hatte. Sobald Victors Tod festgestellt wurde, würde man seinen Körper mit Eis bedecken. Eine Pumpe würde sein Blut in Bewegung halten, damit es nicht verklumpte. Die Körperflüssigkeiten würden durch ein Kryo schutzmittel â ein biologisches Frostschutzmittel â ersetzt werden, damit sich keine Eiskristalle im Körper bilden konnten. Diesen Vorgang nannte man »Vitrifizierung«. Bei stetiger Temperaturabsenkung würde man seinen Körper in einen Schlafsack legen und dann in einer computerkontrollierten Kühltruhe verstauen. Diese wiederum würde dann in einem Container aufbewahrt, in den man nach und nach flüssigen Stickstoff zuleiten würde.
Nach fünf Tagen würde man seinen Körper dann in seiner langfristigen Ruhestätte unterbringen, einem Fiberglasbehälter namens »Kryostat«, der ebenfalls mit flüssigem Stickstoff gefüllt war. Kopfunter würde Victor dann dort verwahrt â bis wann ?
Bis sein Rettungsboot die Zukunft erreicht hatte.
»Meine Leiche bleibt also hier?«, hatte Victor Jed gefragt.
»Wir vermeiden den Begriff âºLeicheâ¹.«
»Welches Wort benutzen Sie dann?«
» Patient .«
Patient.
Der Umgang mit diesem Wort fiel Victor leichter. Ein Patient war er schlieÃlich bereits. Künftig würde er nur ein andersartiger Patient sein. Einer, der so viel Geduld aufbringen musste, wie wenn man den Erfolg einer langfristigen Investition abwarten musste. Oder mit den Chinesen verhandeln, die immer auf unfassbaren Mengen von Unterlagen bestanden. Grace wäre vermutlich nicht dieser Meinung, aber wenn Victor wollte, dann konnte er durchaus Geduld haben.
Und Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte eingefroren sein, um dann irgendwann zu erwachen und sein Leben fortzusetzen â das war kein schlechter Handel.
Seine Zeit auf Erden war beinahe aufgebraucht.
Aber er konnte sich mehr Zeit verschaffen.
Er wählte eine Telefonnummer.
»Ja, Jed, hier ist Victor Delamonte«, sagte er. »Wann könnten Sie in
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