Der Stundenzaehler
mein Büro kommen?«
32
Während der zahllosen Jahrhunderte in der Höhle hatte Dor jegliche Fluchtmöglichkeit ausprobiert.
Nun stand er mit dem Stundenglas in Händen am Rande des Tränenteichs. Er ahnte, dass er nur auf diesem Wege in die Welt zurückkehren konnte.
War es wirklich möglich, dass diese endlose Leidenszeit nun zu Ende ging?, fragte er sich. Und wie mochte die Welt inzwischen aussehen? Der Vater der Zeit wusste nicht, wie lange er fort gewesen war.
Er dachte an die Worte des Alten. Erhöre ihr Leid. Dor blickte auf die Oberfläche des Teichs und schloss die Augen.
Zwei Stimmen erhoben sich über all die anderen. Die eine gehörte einem älteren Mann, die andere einem jungen Mädchen.
»Noch ein Leben.«
»Es soll aufhören.«
Plötzlich donnerte ein Windstoà durch die Höhle, und die Wände erstrahlten, als wären sie von heller Mittagssonne beschienen. Dor presste das Stundenglas an die Brust, trat einen Schritt zurück und sprang hoch in die Luft über dem Teich. Dabei flüsterte er das einzige Wort, das ihn jemals wirklich trösten konnte.
»Alli.«
Er stürzte in die Tiefe.
Fiel vom Himmel.
Zuerst kopfunter, dann mit den FüÃen zuerst raste Dor durch einen farbigen, lichtdurchfluteten Nebel. Sah Körper und Gesichter vorüberfliegen, jene Menschen, die von Nims Turm abrutschten; doch sie bewegten sich aufwärts und Dor abwärts. Er umklammerte das Stundenglas, raste durch blendendes Licht und funkelnde Farben, und der Wind riss an ihm, als wolle er ihn zerfetzen. Durch klirrende Kälte und sengende Hitze sauste er, durch prasselnden Regen und wirbelnden Schnee und dann durch Sand, peitschenden Sand, der ihn umherwirbelte und bremste und schlieÃlich in einer geraden Linie herabsinken lieÃ, so wie der Sand durch das Stundenglas rieselte. Bis Dor zum Halten kam.
Der Sand verschwand.
Dor spürte, dass er an etwas festhing.
Er hörte Musik und Lachen.
Er war auf der Erde gelandet.
Auf der Erde
33
Lorraine brauchte Zigaretten.
Sie hielt an einem Einkaufszentrum.
Als sie an einem Nagelsalon vorbeikam, erinnerte sie sich, wie sie mit der damals elfjährigen Sarah einmal hier gewesen war.
»Kann ich mir die Nägel rot lackieren lassen?«, hatte Sarah gefragt.
»Na klar«, antwortete Lorraine. »Und was ist mit deinen Zehennägeln?«
»Darf ich die auch machen lassen?«
»Warum nicht?«
Sarah sah verblüfft aus, als ihre FüÃe von der Stylistin in eine Schale mit Wasser getaucht wurden. Und Lorraine dachte damals, dass Sarah zu wenig Zuwendung bekam, weil ihre Mutter tagsüber arbeitete und ihr Vater spät nach Hause kam. Als Sarah dann strahlend zu Lorraine sagte: »Ich will die Farbe auf die Zehen, die du auch hast, Mom«, nahm Lorraine sich vor, öfter etwas mit ihrer Tochter zu unternehmen.
Doch dazu war es nicht gekommen.
Die Scheidung hatte alles verändert.
Als Lorraine jetzt an dem Nagelsalon vorbeiging, sah sie viele freie Plätze. Doch sie wusste, dass Sarah sich heute lieber einsperren lassen würde, als mit ihrer Mutter zur Maniküre zu gehen.
Grace brauchte Lebensmittel.
Sie hätte einen Einkaufszettel schreiben und jemanden losschicken können.
»Du brauchst dich nicht selbst um den Haushalt zu kümmern«, hatte Victor ihr immer gesagt.
Doch im Lauf der Zeit hatte Grace gemerkt, dass ihr die Pflichten fehlten, die für andere Leute eine Last darstellten, und sie hatte sie nach und nach wieder selbst übernommen.
Jetzt schritt sie durch die Gänge des Supermarkts und legte Sellerie, Tomaten und Gurken in ihren Einkaufswagen. Seit einigen Monaten hatte sie wieder begonnen, selbst zu kochen â gesunde Gerichte aus frischen Produkten. Sie hoffte, das Leben ihres Mann durch eine gute Diät verlängern zu können. Grace wusste wohl, dass das nur eine kleine Geste, ein Tropfen auf den heiÃen Stein war. Aber die Hoffnung war ihr einziger Halt.
Heute Abend hatte sie sich vorgenommen, einen vitaminreichen Salat zuzubereiten.
Doch als sie an der Tiefkühltruhe vorbeikam, griff sie noch nach einem Becher Eiskrem mit Pfefferminzgeschmack und Schokostücken, Victors Lieblingssorte. Damit war sie vorbereitet, falls Victor Lust auf etwas SüÃes bekam.
34
In einem spanischen Dorf feierte man im Dezember ein Fest.
StraÃenmusiker hatten sich auf dem Marktplatz versammelt, zwischen Tischen,
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