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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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die beladen waren mit Tapas aus Garnelen, Sardinen, Kartoffeln. In der Mitte des Platzes befand sich ein Brunnen, auf dessen Grund Münzen glitzerten, ins Wasser geworfen von Glück suchenden Liebenden. Auf dem Rand des Brunnens saßen Touristen und ließen die Beine baumeln.
    Neben dem Brunnen hing an einem Sperrholzgerüst eine lebensgroße Pappmachéfigur – ein bärtiger Mann mit einem Stundenglas in den Händen. EL TIEMPO stand auf einem Schild. VATER ZEIT . Darunter war eine gelbe Plastikkeule befestigt.
    Immer wieder schlug jemand die Figur mit der Keule. Das war ein alter Brauch: das alte Jahr vertreiben, das neue willkommen heißen. Die Zuschauer lachten, johlten und klatschten dazu.
    Ein kleiner Junge riss sich von der Hand seiner Mutter los und rannte zu der Figur. Hob die Keule und drehte sich abwartend zu seiner Mutter um.
    Â»Ja, ja, mach nur«, rief sie und winkte ihm zu.
    In diesem Augenblick brach die Sonne durch die Wolken und tauchte das Dorf in ein eigenartiges Licht. Ein Wind kam auf und blies Sand über den Platz. Der kleine Junge achtete nicht darauf. Er hob den Schläger und schlug mit voller Wucht auf die Figur.
    Klatsch !
    Sie öffnete die Augen.
    Der Junge schrie entsetzt.
    Dor, der an dem Sperrholzgerüst hing, spürte einen Schmerz an der Hüfte.
    Er riss die Augen auf.
    Ein kleiner Junge stieß einen angstvollen Schrei aus.
    Dieser Schrei erschreckte Dor so sehr, dass er zurückzuckte. Sein Gewand löste sich von den zwei Nägeln, mit denen es am Holz befestigt war, und Dor stürzte zu Boden. Dabei ließ er das Stundenglas fallen.
    Der Schrei des Jungen wurde langsam schwächer, wie ein Ton von einer Trompete.
    Dor rappelte sich auf. Alles um ihn her verlangsamte sich, wie in einem Traum. Das Gesicht des Jungen war im Schrei erstarrt. Die gelbe Keule verharrte in der Luft. Die Leute am Brunnen deuteten auf die Szene, bewegten sich aber nicht.
    Dor hob das Stundenglas auf.
    Und rannte los.
    Zuerst rannte er, so schnell er konnte …
    â€¦ mit gesenktem Kopf, damit niemand ihn erkannte. Doch außer ihm bewegte sich nichts mehr. Kein Windhauch regte sich. Kein Ast schwankte. Die Menschen, die Dor sah, wirkten wie eingefroren – ein Mann, der einen Hund ausführte, Leute mit Gläsern in den Händen vor einer Bar.
    Dor lief langsamer und sah sich um. In unserer heutigen Wahrnehmung befand er sich in der ländlichen Umgebung eines spanischen Dorfes. Dor jedoch hatte noch nie so viele Menschen und Gebäude an einer Stelle gesehen.
    Hierin befindet sich jeder Augenblick des Universums , hatte der Alte gesagt. Dor beobachtete den Sand im Stundenglas: Auch sein Rieseln war fast zum Stillstand gekommen. Nur wenige Körnchen fielen noch durch die Öffnung.
    Mit dem Stundenglas in den Händen marschierte Dor viele Meilen.
    Der Stand der Sonne änderte sich kaum.
    Sein Schatten folgte ihm, obwohl alle anderen Schatten am Boden zu haften schienen. Als er in eine menschenleere Gegend kam, stieg Dor auf einen Hügel und setzte sich. Das erinnerte ihn an Alli, und er begann sich nach seiner alten Welt zu sehnen – nach den endlosen Ebenen, den Lehmhäusern, der Stille.
    Hier vernahm er ein stetiges Summen, als würden Hunderte von Lauten in einen einzigen Ton gepresst. Dor wusste noch nicht, dass dies der Klang eines verlangsamten Augenblicks war.
    Am Fuße des Hügels sah Dor eine kohlschwarze Straße mit einem weißen Streifen in der Mitte. Er fragte sich, wie viele Sklaven man wohl brauchte, um eine so glatte Oberfläche zu schaffen.
    Du wolltest die Zeit beherrschen , hatte der Alte gesagt. Als Strafe für dich wird dir dieser Wunsch gewährt .
    Dor dachte an sein Erwachen auf der Erde. Er war gestürzt und hatte das Stundenglas fallen lassen.
    Vielleicht …
    Er kippte das Stundenglas zur Seite und richtete es dann auf.
    Der Sand begann wieder zu fließen.
    Das Summen verstummte.
    Dor hörte ein seltsames Geräusch. Er blickte auf die Straße und entdeckte dort Autos. Weil er sie für rasende Ungeheuer hielt, kippte er das Stundenglas in seiner Panik hastig seitwärts.
    Sofort verharrten die Autos an Ort und Stelle.
    Das Summen kehrte zurück.
    Dor riss die Augen auf. Hatte er das vollbracht? Hatte er die Welt wirklich zum Stillstand gebracht? Plötzlich fühlte er sich so unfassbar mächtig, dass ihn schauderte.

35
    Zu Anfang waren sie etwas befangen an diesem Abend,

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