Der Stundenzaehler
Sirene, und in jedem Klassenzimmer hing eine Uhr.
»Wie viel Uhr ist es?«, wurde zu einer der meistgestellten Fragen der Welt, die man in jedem Sprachbuch vorfand.
Als Dor, der erste Mensch, der diese Frage jemals gestellt hatte, dann an seinem Zielort eintraf â der Stadt, aus der die Stimmen, die »Noch ein Leben« und » Es soll aufhören« verlangten â, setzte er sein neu erworbenes Wissen ein, um Arbeit an einem Ort zu finden, an dem er immer von Zeit umgeben war.
Ein Uhrengeschäft.
Und dort begann er zu warten.
41
Victors Limousine glitt durch Downtown Manhattan.
Bog in eine kopfsteingepflasterte StraÃe ein. In der Kurve befand sich ein schmaler Laden. Auf einer erdbeerfarbenen Markise davor stand die Adresse, aber kein Name. Die hölzerne Ladentür war mit einer Schnitzerei von Sonne und Mond versehen.
»Orchard Street 143«, verkündete der Chauffeur.
Zwei Mitarbeiter stiegen aus und halfen Victor in seinen Rollstuhl. Einer hielt die knarrende Ladentür auf, der andere schob den Rollstuhl.
Die Luft im Laden roch alt, wie aus längst vergangener Zeit. Hinter der Theke stand ein bleicher alter Mann mit weiÃen Haaren. Er trug ein blaues Hemd und eine karierte Weste, und auf halber Höhe seiner Nase saà eine Nickelbrille. Victor hielt ihn für einen Deutschen. Die vielen Reisen hatten seinen Blick für Nationalitäten geschärft.
Victor begrüÃte den Mann auf Deutsch, und der lächelte. »Kommen Sie aus Deutschland?«
»Nein, ich dachte nur, Sie vielleicht.«
»Ah.« Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Was können wir für Sie tun?«
Victor sah sich um. Er war umgeben von Uhren in allen Variationen: Standuhren, Tischuhren, verglaste Küchenuhren, Lampenuhren, Schuluhren, Wecker, Uhren in Form eines Baseballs oder einer Gitarre â es gab sogar eine Katzenuhr, bei der das Pendel der Schwanz war. Und wie viele Pendel es hier gab! An der Wand, an der Decke und hinter Glas, schwangen sie hin und her, tick tack, tick tack . Ein Kuckuck schoss aus einem Gehäuse und lieà seinen Ruf elf Mal ertönen. Dann verschwand er wieder hinter dem Türchen.
»Ich möchte die älteste Taschenuhr, die Sie haben«, sagte Victor.
Der Besitzer leckte sich die Oberlippe.
»Was darf sie denn kosten?«
»Der Preis spielt keine Rolle.«
»Gut ⦠einen Augenblick bitte.«
Der Besitzer verschwand in einem Hinterzimmer, und Victor hörte ihn in gedämpftem Tonfall mit jemandem sprechen.
Es war Dezember, und Victor hatte beschlossen, sich zu seinem letzten Weihnachtsfest eine besondere Uhr zuzulegen. Die Angestellten des Kryonik-Unternehmens sollten diese Uhr in dem Augenblick anhalten, in dem Victor eingefroren wurde; sobald er dann wieder aufgetaut wäre, würde er diese Uhr wieder in Betrieb nehmen.
Victor hatte viel übrig für symbolische Handlungen dieser Art. Und eine solche Uhr war in jedem Fall eine gute Investition. Wenn sie heutzutage bereits eine Antiquität war, würde sie in mehreren Jahrhunderten noch sehr viel mehr wert sein.
»Mein Lehrling kann Ihnen helfen«, verkündete der Besitzer.
Ein schlanker muskulöser Mann mit zerzausten Haaren trat nach vorne. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover. Victor schätzte den Mann auf Mitte dreiÃig und versuchte seine Herkunft zu erraten. Markante Wangenknochen. Recht flache Nase. Naher Osten? Griechenland vielleicht?
»Ich hätte gerne die älteste Taschenuhr, die Sie vorrätig haben«, erklärte Victor.
Der Mann schloss die Augen. Er schien nachzudenken. Victor warf dem Besitzer einen ungeduldigen Blick zu. Der zuckte die Achseln.
»Er verfügt über ein enormes Wissen«, flüsterte er.
»Aber es sollte kein Leben lang dauern, bis er die Antwort findet«, bemerkte Victor und gluckste in sich hinein. »Oder noch ein Leben.«
Noch ein Leben.
Der Mann riss die Augen auf.
42
In der nächsten Woche wirkte Ethan ziemlich gleichgültig.
Sarah sagte sich, dass es dafür viele Gründe geben konnte. Vielleicht war er einfach müde.
Um ihn aufzuheitern, legte sie ihm eine Packung Erdnussbuttercracker auf den Tresen, die sie mit einer kleinen roten Schleife verziert hatte. Insgeheim hatte sie auf einen Kuss gehofft.
Doch als Ethan die Cracker sah, grinste er nur und sagte: »Okay, danke.«
Den gemeinsamen Abend hatte Sarah nicht mehr zur Sprache gebracht, weil
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