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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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sie nicht wusste, was sie dazu sagen sollte. Es war ihr peinlich zuzugeben, dass sie sich wegen des Wodkas nicht mehr an alles erinnern konnte (und das musste ausgerechnet ihr passieren, die sie für den Englischunterricht ganze Passagen der Canterbury Tales auswendig gelernt hatte!). Außerdem fand Sarah es besser, diesen Abend nach Möglichkeit nicht mehr zu erwähnen.
    Stattdessen versuchte sie sich mit Ethan beim Regale Einräumen über ihre gemeinsamen Interessen zu unterhalten, wie sie es bei ihrem Treffen getan hatten, bevor sie sich auf Schweigen und das rein Körperliche verlegten.
    Aber irgendetwas stimmte nicht.
    Ethan reagierte auf jedes Thema ausgesprochen einsilbig.
    Â»Was ist los?«, fragte Sarah schließlich.
    Â»Nichts.«
    Â»Bist du sicher?«
    Â»Ja, Mann. Ich bin einfach nur ziemlich fertig.«
    Sie verfielen wieder in Schweigen und verstauten die Lebensmittel aus den Kisten in Regalen.
    Schließlich platzte Sarah heraus: »Der Wodka war lecker«, aber es hörte sich genauso unaufrichtig an, wie sie sich auch fühlte.
    Ethan grinste und sagte: »Suff bringt’s immer.« Sarah lachte übertrieben laut.
    Als er aufbrach, hob Ethan die Hand und sagte: »Bis nächste Woche.«
    Sarah hoffte, dass er noch »Lemonade« hinzufügen würde, weil sie das gerne gehört hätte. Als er es jedoch nicht tat, hörte sie sich plötzlich selbst »Lemonade« sagen und fragte sich erschrocken: O Gott, hab ich das gerade wirklich laut ausgesprochen ?
    Â»Ja. Lemonade«, sagte Ethan und ging.
    An diesem Nachmittag hob Sarah Geld von ihrem Konto ab und unternahm – ohne ihrer Mutter Bescheid zu sagen – eine einstündige Zugfahrt nach New York City, um eine ganz besondere Uhr zu kaufen.
    Wenn man die Liebe, die man sich wünscht, nicht bekommt, glaubt man manchmal, sie durch Geschenke erlangen zu können.

43
    Victor musste zugeben, dass der Lehrling sich gut auskannte.
    Er legte Victor eine in achtzehnkarätigem Gold gefasste Spindeltaschenuhr aus dem Jahr 1784 vor, auf deren Gehäuse ein Vater, eine Mutter und ein Kind abgebildet waren. Das Zifferblatt bestand aus weißem Emaille, die Ziffern waren erhabene römische Zahlen. Die Zeiger waren aus Silber gefertigt, und zu jeder vollen Stunde ertönte sogar ein helles Klingeln. Die Uhr war in hervorragendem Zustand, vor allem, wenn man ihr Alter bedachte.
    Und sie stammte zufällig auch noch aus Frankreich.
    Â»Da bin ich geboren«, sagte Victor.
    Â»Ich weiß«, erwiderte der Lehrling.
    Â»Woher können Sie das wissen?«
    Der Lehrling zuckte mit den Achseln. »Ihre Stimme.«
    Stimme? Victor hatte nicht den geringsten Akzent. Er sann einen Moment über die Worte des Lehrlings nach und beschloss dann, sich nicht weiter darum zu kümmern. Die Uhr, die sich perfekt in seine Handfläche fügte, war viel interessanter.
    Â»Kann ich sie gleich mitnehmen?«
    Der Lehrling schaute den Besitzer an.
    Doch der schüttelte den Kopf. »Wir müssen sie noch ein paar Tage hierbehalten, um sie zu warten. Sie dürfen nicht vergessen, dass es sich um ein sehr altes Stück handelt.«

    Als Victor nun wieder auf der Rückbank seiner Limousine saß, fiel ihm auf, dass die beiden ihm keinen Preis für die Uhr genannt hatten.
    Doch das war nicht wichtig. Victor hatte sich schon lange nirgendwo mehr nach einem Preis erkundigt.
    Er schluckte einige Pillen und trank den Rest eines Ginger Ale. Die Schmerzen in seinem Bauch und in seinen Nieren plagten ihn unablässig, wie schon seit Monaten. Doch der Angst vor seiner eigenen Endlichkeit rückte Victor nun mit derselben Methode zuleibe wie allen anderen Dingen auch, vor denen er sich fürchtete: mit methodischem Handeln.
    Er warf einen Blick auf seine Uhr. Nachmittags hatte er einen Termin mit seinen Rechtsexperten.
    Dann wollte er die Unterlagen des Kryonik-Unternehmens sichten.
    Danach würde er nach Hause fahren zu Grace, die ihn gewiss wieder mit einer ihrer »gesunden« Mahlzeiten erwarten würde – geschmacksneutrales Gemüse höchstwahrscheinlich.
    Wir sind so unterschiedlich , dachte Victor. Grace versucht, den kläglichen Rest meiner Tage auf Erden zu strecken, und ich schmiede bereits Pläne für meine Auferstehung in einem anderen Jahrhundert .
    Er dachte daran, wie perfekt die Taschenuhr in seiner Hand gelegen hatte. Und wunderte sich, wie gestärkt er sich durch

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